Im Nahen Osten wächst die Gefahr eines Krieges aus Versehen. Israels Feldzug gegen die Hamas in Gaza und das Leid der Zivilbevölkerung dort lassen die iranisch unterstützten Feinde des jüdischen Staates aufmarschieren: Im Norden von Israel greift die Hisbollah-Miliz an, die stärkste nicht staatliche Truppe der Welt. Von Süden her schicken die jemenitischen Huthis ihre Drohnen bis Tel Aviv. Nun droht auch noch der türkische Präsident Recep Tayyip Erdoğan damit, militärisch gegen Israel einzugreifen. Keiner dieser Akteure will einen regionalen Großkonflikt. Doch der Einschlag einer Hisbollah-Rakete auf einem Fußballplatz der israelisch besetzten Golan-Höhen zeigt, wie schnell die Situation außer Kontrolle geraten könnte.

Nahost-Experte Daniel Gerlach in der ZiB2:

Daniel Gerlach geht davon aus, dass die Ortschaft auf den Golanhöhen von einer fehlgeleiteten Artillerierakete der Hisbollah getroffen wurde. Er glaubt nicht, dass Israel mit Bodentruppen in den Libanon einmarschieren wird, da Israel nicht ohne große Verluste an zwei Fronten kämpfen kann. Neu sei beim Schlagabtausch zwischen Hisbollah und Israel, dass die Hisbollah mit ihren Angriffen aufhören würde, wenn der Krieg in Gaza aufhört. Auf die Drohung Erdogans angesprochen meinte Gerlach, dass er nicht glaube, dass die Türkei gegen Israel militärisch vorgehen würde, sondern dass Erdogan durch seine Drohgebärden lediglich bei seinen Wählern punkten möchte.

Nach dem Tod von zwölf Kindern und Jugendlichen halten sich Israel und die Hisbollah bisher an die ungeschriebenen Spielregeln ihres Dauerstreits. Beide Seiten beharken sich seit Monaten mit Raketen, Drohnen und Luftangriffen im israelisch-libanesischen Grenzgebiet, überschreiten aber nicht die Schwelle zum offenen Krieg. Auch jetzt lässt die israelische Regierung verlauten, die Vergeltungsschläge nach dem Angriff auf den Fußballplatz sollten für die Hisbollah zwar schmerzhaft sein, aber begrenzt bleiben.

Die Hisbollah weist die Verantwortung für den Raketenangriff zurück, obwohl alle Beteiligten wissen, dass es eine ihrer Raketen war, die die Kinder tötete. Indem sie jede Verantwortung verneint, hält die Hisbollah die Tür für Kompromisse offen, ohne einräumen zu müssen, das unter Druck zu tun. Die Miliz ist nach Angaben der libanesischen Regierung bereit, sich von der israelischen Grenze bis zum Litani-Fluss rund 30 Kilometer nördlich zurückzuziehen.

Es gibt keine Garantie, dass Israel und die Hisbollah immer so besonnen reagieren. Schon der nächste ungewollte Zwischenfall könnte im Krieg münden. Anderswo in der Region haben ohnehin Scharfmacher das Sagen: Die Huthis im Jemen wollen nach ihrem Angriff auf Tel Aviv weiter auf Israel feuern. Erdoğan, der innenpolitisch schwächelt, droht Israel mit der Lieferung von Kampfdrohnen an die Hamas.

„Ich glaube nicht, dass die Türkei auf irgendeine Art militärische Mittel gegen Israel einsetzen wird“, sagte Murat Somer, Politologe an der Istanbuler Özyegin-Universität, im Interview. Allerdings trügen Erdoğans Drohung und die Antwort von Israels Außenminister Israel Katz zur weiteren Eskalation in der Region bei. Katz hatte Erdoğans Äußerung mit Drohungen von Saddam Hussein gegen Israel verglichen. Erdoğan solle daran denken, was mit Saddam geschehen sei, fügte Katz mit Blick auf den Tod des früheren irakischen Diktators hinzu.

Einst hätten die USA ihre Partner Türkei und Israel wahrscheinlich zurechtgewiesen. Doch Amerika ist nicht mehr die Nahost-Ordnungsmacht von früher. Präsident Joe Biden hat aus Sicht vieler Regierungen in der Region zu wenig unternommen, um Israel dazu zu bringen, den Krieg in Gaza zu beenden. Jetzt geht Biden dem Ende seiner Amtszeit entgegen, und auch von den beiden Kandidaten für seine Nachfolge werden keine Impulse erwartet.

Weder Donald Trump noch Kamala Harris weckten Begeisterung in arabischen Regierungskreisen, so Julien Barnes-Dacey von der Denkfabrik European Council on Foreign Relations. Arabische Staaten beklagen eine strategische Abwendung der USA vom Nahen Osten: „Es herrschen Unsicherheit und Frust über den Unwillen der Amerikaner, mehr Führung in der Region zu übernehmen“. Die Abwesenheit einer Führungsmacht „reißt eine Lücke“, sagt Politologe Somer. „Das Problem ist, dass es im Moment keine westliche Macht gibt, die willens wäre, Israel und die Hisbollah zu zügeln, die humanitäre Katastrophe in Gaza zu beenden und für Völkerrecht und Frieden einzustehen.“