Dreieinhalb Monate vor der US-Präsidentschaftswahl rückt mit dem Verzicht von Joe Biden auf die Kandidatur der Demokraten seine Stellvertreterin Kamala Harris in den Fokus. Die Vizepräsidentin gilt allein schon wegen ihrer Position als eine der aussichtsreichsten Anwärterinnen auf die Nominierung. Ihren Anspruch auf die Kandidatur hat sie erhoben.

Bidens Segen hat sie bereits. Sollte die Partei ihm folgen und Harris aufstellen, bekäme die 59-Jährige die Chance, als erste Frau in der Geschichte der USA das Präsidentenamt zu übernehmen. Im Falle eines Wahlsiegs würde sie an die Spitze der weltgrößten Volkswirtschaft rücken und zugleich die Oberbefehlshaberin des Militärs der atomaren Supermacht werden. Kurzum, sie wäre die mächtigste Frau der Welt.

Harris würde zudem einen Generationenwechsel im Weißen Haus einläuten. Und mit ihr käme auch erstmals ein asiatischstämmiger Mensch und nach Barack Obama erst die zweite schwarze Person überhaupt in das höchste politische Amt der Vereinigten Staaten.

Bis dahin müssen noch einige Brocken aus dem Weg geräumt werden. Doch Harris hat schon früher in ihrer Karriere wiederholt die gläserne Decke durchbrochen: Sie war die erste Frau, die Bezirksstaatsanwältin von San Francisco wurde, dann die erste schwarze Generalstaatsanwältin von Kalifornien, dann die erste Senatorin in Washington mit indischen Wurzeln. Anfang 2021 übernahm mit ihr schließlich erstmals eine Frau sowie eine schwarze und asiatischstämmige Person die US-Vizepräsidentschaft.

Niedrige Zustimmungsraten

Der Wechsel von Biden zu Harris als Spitzenkandidatin würde mitten in den heiß gelaufenen Wahlkampf fallen. Doch auch in der eigenen Partei ist sie alles andere als unumstritten. Wie Biden kämpft sie mit niedrigen Zustimmungsraten. Als Nummer zwei tat sie sich lange schwer, ihr Profil zu schärfen und hervorzustechen. Gerade in der Anfangszeit ihrer Vizepräsidentschaft wurde sie von einigen Demokraten gar als Belastung empfunden. Sie trat ihr Amt zwei Wochen nach dem Sturm wütender Trump-Anhänger auf das Kapitol in Washington an, schaffte es aber zunächst nicht, das politische Establishment in der Hauptstadt und die Öffentlichkeit von sich zu überzeugen. Erst 2022 schien sie sich mehr und mehr in ihre Rolle einzufinden. Sie ergriff eine führende Stimme beim Kampf für das Recht auf Abtreibung und setzte sich gegen Waffengewalt ein.

Die Republikaner machten sie zuletzt verstärkt zur Zielscheibe rhetorischer Attacken, besonders nachdem sich immer mehr angedeutet hatte, dass Biden womöglich seinen Platz räumen könnte. Sie werfen Harris vor allem ein Versagen bei der Einwanderungspolitik vor, einem der heißesten Wahlkampfthemen.

Hinzu kommen große außenpolitische Streitthemen, allen voran die Kriege in der Ukraine und im Gazastreifen sowie das angespannte Verhältnis der USA zu China, neben Russland der schärfste Erzrivale. Harris hat ihr außenpolitisches Profil in den letzten Monaten geschärft. Im Februar bekannte sie sich in einer Rede vor der Münchner Sicherheitskonferenz explizit zur Nato und zur internationalen Zusammenarbeit – offensichtlich in Abgrenzung zu Trump, der deutlich kritischere Töne anschlägt, wenn es um die Militärallianz oder traditionelle Verbündete geht. Harris vertrat Biden bei einem internationalen Ukraine-Gipfel in der Schweiz und mahnte Israel mit deutlichen Worten zur Mäßigung in Gaza.

Harris ist mit dem Rechtsanwalt Douglas Emhoff verheiratet, der der erste „First Gentleman“ in der Geschichte der USA werden würde. Das Paar hat keine eigenen Kinder, Emhoff brachte aber zwei Kinder aus einer früheren Beziehung in die Ehe. Harris ist die Tochter von zwei Einwanderern. Ihr Vater, ein renommierter Wirtschaftswissenschaftler, stammt aus Jamaika. Ihre Mutter, eine 2009 verstorbene Brustkrebsforscherin, kam aus Indien in die USA. Harris wurde in Kalifornien geboren, ihre Eltern trennten sich, als sie noch ein kleines Kind war.

Sie und ihre jüngere Schwester wuchsen bei ihrer Mutter auf, zeitweise lebten sie im kanadischen Montreal. „Sie erzog uns zu stolzen, starken schwarzen Frauen. Und sie hat uns beigebracht, unser indisches Erbe zu kennen und darauf stolz zu sein“, sagte Harris 2020 in einer Rede. Darin betonte sie auch, dass die USA einen Präsidenten bräuchten, „der uns alle zusammenbringt – Schwarze, Weiße, Latinos, Asiaten, Ureinwohner –, um die Zukunft zu erreichen, die wir gemeinsam wollen.“

Vorerst aber müsste Harris es schaffen, ihre Partei hinter sich zu scharen und von einer Kandidatur zu überzeugen. Viel Zeit bleibt ihr dafür nicht mehr. In einer ersten Stellungnahme nach Bidens Verzicht erklärte sie, dass sie alles in ihrer Macht tun werde, um die Demokraten und die Nation zu einen – und Donald Trump zu besiegen. Der nämlich steht als Kandidat der Republikaner fest.