Den größten Applaus bei ihrer Bewerbungsrede erntete EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen, als sie – ohne den Namen zu nennen – den ungarischen Ministerpräsidenten Viktor Orbán für seine Reise nach Moskau scharf kritisierte. „Diese sogenannte Friedensmission war eine reine Appeasementmission“ (Beschwichtigungsmission), sagte sie und bekam Protest-Rufe von den Rechten, aber stehende Ovationen vom Rest des Plenarsaals.
Von der Leyen sprach auch einen weiteren Konfliktherd an und rief zu einer sofortigen und dauerhaften Waffenruhe für den Gaza-Streifen auf. „Das Blutvergießen in Gaza muss jetzt stoppen. Zu viele Kinder, Frauen und Zivilisten haben ihr Leben verloren.“ Sie forderte außerdem die Freilassung sämtlicher israelischer Geiseln.
Tagelange Verhandlungen, Gespräche unter vier Augen
Tagelang hatte die alte und neue EU-Kommissionspräsidentin mit den Fraktionen und Delegationsleitern im EU-Parlament verhandelt, meistens in Gesprächen unter vier Augen. Es war klar, dass sie auf Stimmen aus den Reihen ihrer eigenen EVP, von Sozialdemokraten, Grünen und Liberalen hoffen durfte. Doch die Wahl ist geheim, die Zahl der Abweichler war die große Unbekannte.
Am frühen Morgen hatte von der Leyen die Schwerpunkte für die kommenden fünf Jahre in Leitlinien vorgelegt. Der Asyl- und Migrationspakt soll umgesetzt und die Außengrenzen der EU gestärkt werden. Ein neuer Ansatz soll mehr Rückführungen ermöglichen. Sie kündigte zudem an, die Mitarbeiterzahl der EU-Grenzagentur Frontex auf 30.000 zu erhöhen.
Zugeständnis an Sozialdemokraten
Für die Grenzsicherheit sei zudem „überaus wichtig, einen vollständigen und voll funktionierenden Schengenraum sicherzustellen“. Bulgarien und Rumänien seien „bereit und sollten alle Vorteile des Schengenraums genießen“. Ein Hinweis an Österreich, das die volle Aufnahme der beiden Länder in den Schengenraum derzeit blockiert.
Von der Leyen kündigte in ihrer Rede weiters einen eigenen EU-Kommissar an, der sich mit dem Thema leistbaren Wohnen beschäftigen soll, ein Zugeständnis an die sozialdemokratische S&D-Fraktion. Die vorgestellten Leitlinien betonen auch die Bedeutung der Erweiterung: „In einer Welt der Großmächte verleiht eine größere und stärkere Union uns mehr geopolitisches Gewicht und Einfluss auf der Weltbühne.“ Jeder Kandidat müsse jedoch die entsprechenden Voraussetzungen erfüllen, bevor er beitreten dürfe.
E-Fuels: „Technologieneutraler Zugang“, Vorschläge für Landwirtschaft
Die Präsidentin will ihren Green Deal für den Klimaschutz stärken, indem sie eine Regelung zur beschleunigten Dekarbonisierung der Industrie vorlegen will. Im Streit um das Verbrenner-Aus verspricht von der Leyen einen Vorstoß für Ausnahmen für sogenannte E-Fuels, vor Journalisten konkretisierte sie das später: Die Industrie brauche Planungssicherheit und einen „technologieneutralen“ Zugang, die E-Fuels müssten „für eine gezielte Anwendung eine Rolle spielen“. Eine „echte Energieunion“ soll die Energierechnungen weiter senken.
Für die Landwirtschaft sind Vorschläge geplant, um mit den Folgen des Klimawandels umzugehen. Weiters solle die Position der Bauern in der Lebensmittellieferkette gestärkt werden. „Niemand sollte gezwungen sein, gute Lebensmittel unter Produktionskosten zu verkaufen“, betont die Kommissionspräsidentin.
Eigener Kommissar für Verteidigungsindustrie
Die Verteidigungsindustrie der EU soll mit einem eigenen Kommissar und mehr Geld gestärkt werden. Von der Leyen will eine „Verteidigungsindustrie“ aufbauen und in den ersten 100 Tagen ihres Mandats ein Weißbuch zur Zukunft der Verteidigung vorlegen. Zudem will sie eine neue europäische Strategie für die innere Sicherheit vorschlagen, um Kriminalität zu bekämpfen. In dem Kontext versprach sie die Zahl, der Europol-Mitarbeiter zu verdoppeln.