Gerade einmal 24 Stunden vor der heutigen Abstimmung im EU-Parlament wurde die designierte EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen von der Vergangenheit eingeholt. Die EU-Kommission habe unter ihrer Leitung mit der Geheimhaltung von Informationen zu milliardenschweren Corona-Impfstoffverträgen gegen EU-Recht verstoßen, lautet das gestern veröffentlichte Urteil des EU-Gerichts in Luxemburg. Besonders in Hinblick auf mögliche Interessenkonflikte und Entschädigungsregeln für Impfstoff-Hersteller habe die EU-Behörde nicht ausreichend Zugang zu Dokumenten gewährt, entschieden die Richter. Das Urteil kann vor der höheren Instanz, dem Europäischen Gerichtshof, noch angefochten werden. Die EU-Kommission erklärte, sie werde das Urteil prüfen und behalte sich weitere rechtliche Schritte vor.

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Während der Pandemie hatte die EU-Kommission in den Jahren 2020 und 2021 im Namen der Mitgliedstaaten mit Pharmaunternehmen Verträge über Hunderte Millionen Dosen Impfstoff verhandelt und abgeschlossen. Das Vorgehen stand immer wieder in der Kritik, weil die Verträge nur teilweise öffentlich gemacht wurden oder weil es Verzögerungen bei der Lieferung des Impfstoffs gab. Unter anderem die Europäische Staatsanwaltschaft ermittelt in dem Zusammenhang.

Aus dem Hut gezaubert

Zum zweiten Mal stellt sich Ursula von der Leyen heute der Entscheidung des EU-Parlaments. Beim ersten Mal vor fünf Jahren, aus dem Hut gezaubert von Emmanuel Macron und den anderen Staats- und Regierungschefs, war es mehr als knapp. Neun Stimmen Überhang gaben den Ausschlag, 750 Abgeordnete waren es damals noch. Diesmal ist die Ausgangslage anders, von der Leyen ist zumindest formal als Spitzenkandidatin der EVP ins Rennen gegangen und die Parteienfamilie hat gewonnen. Nach Gründung zweier neuer Rechtsfraktionen ist die Verteilung im EU-Parlament so: 188 Sitze EVP, 136 S&D, 84 PFE („Patrioten für Europa“), 78 EKR („Konservative und Reformer“), 77 Liberale (Renew), 53 Grüne, 46 Linke, 33 Fraktionslose sowie 25 ESN („Europa der souveränen Nationen“).

An sich müssten die Stimmen von EVP, Sozialdemokraten und Liberalen reichen – doch die Wahl ist geheim und es gibt Widerstand gegen die Präsidentin selbst aus den eigenen Reihen. Die EVP rechnet intern mit 15 Prozent „Verweigerern“. Mit an Bord sind mittlerweile aber auch die Grünen. Von der Leyen brauche ihre Stimmen, „damit sie nicht Zugeständnisse an die Rechten machen muss“, wie es Neo-Abgeordnete Lena Schilling gestern vor Journalisten ausdrückte. Befragt zu den anhaltenden Vorwürfen gegen sie selbst wollte sie nicht mehr Stellung beziehen und meinte, sie wolle an ihrer Arbeit im Parlament gemessen werden.

Rechte Fraktionen hinter einer Brandmauer

Ein Viertel der Mandate wird mittlerweile von rechten Abgeordneten besetzt, wobei die Mitglieder der EKR, die von den Fratelli von Georgia Meloni dominiert werden, zunehmend „salonfähig“ sind und wohl zum Teil für von der Leyen stimmen werden. Sie bekamen unter anderem zwei Vizepräsidenten-Posten, die gestern Harald Vilimsky, Leiter der auf sechs Mitglieder angewachsenen FPÖ-Delegation, als „Glockenbimmler“ (weil sie ein Glöckchen als Ordnungsinstrument verwenden) abtat. Die Präsidentinnen Metsola (EP), von der Leyen und Lagarde (EZB) bezeichnete er als „politisches Hexentrio“, das „diesen Kontinent in den Abgrund führt, und wir werden sie die Peitsche spüren lassen“.

Kaum konstituiert, gab das EU-Parlament gestern übrigens schon ein starkes Lebenszeichen: Mit großer Mehrheit wurde eine Resolution verabschiedet, die sich für die weitere massive Unterstützung der Ukraine und gegen die Alleingänge Viktor Orbáns ausspricht.