Einmal noch vor der Sommerpause kommt das Europäische Parlament zusammen in Straßburg, gewissermaßen, um sich selbst neu zu erfinden. Von heute bis Freitag findet die konstituierende Sitzung statt; die neuen Abgeordneten, rund 40 Prozent von insgesamt 720 sind neu, müssen sich in den Büros einrichten und werden in ihrer Funktion angelobt.
Und dann ist da der Donnerstag. Zum zweiten Mal stellt sich Ursula von der Leyen der Entscheidung des EU-Parlaments. Beim ersten Mal vor fünf Jahren, aus dem Hut gezaubert von Emmanuel Macron und den anderen Staats- und Regierungschefs, war es mehr als knapp. Neun Stimmen Überhang gaben den Ausschlag, 750 Abgeordnete waren es damals noch. Diesmal ist die Ausgangslage anders, von der Leyen ist zumindest formal als Spitzenkandidatin der EVP ins Rennen gegangen und die Parteienfamilie hat gewonnen. Nach Gründung zweier neuer Rechtsfraktionen ist die Verteilung im EU-Parlament so: 188 Sitze EVP, 136 S&D, 84 PFE („Patrioten für Europa“), 78 EKR („Konservative und Reformer“), 77 Liberale (Renew), 53 Grüne, 46 Linke, 25 ESN („Europa der soouveränen Nationen“) und dann noch 12 Fraktionslose sowie 21 neue Abgeordnete, die keiner Fraktion des scheidenden Parlaments angehören.
Rechtsparteien auf Gegenkurs
Ein Viertel der Plätze ist damit von rechtsgerichteten Parteien besetzt. An sich müssten die Stimmen von EVP, Sozialdemokraten und Liberalen reichen – doch die Wahl ist geheim und es gibt Widerstand gegen die Präsidentin selbst aus den eigenen Reihen. So haben sich etwa französische und slowenische EVP-Mitglieder schon beim EVP-Parteitag in Burkarest im März gegen die Deutsche ausgesprochen, auch aus dem Kreis österreichischer ÖVP-Abgeordneter hört man, dass nicht jeder mit einer zweiten Amtszeit einverstanden ist. Und das, obwohl Kanzler und Parteichef Karl Nehammer seine Unterstützung zugesagt hat. Die EVP rechnet intern mit 15 Prozent „Verweigerern“, obgleich ein Scheitern von der Leyens zu einer zeitlichen Verzögerung bis in den Herbst führen und die EU als Ganzes sehr schwächen würde.
Es wird also knapp am Donnerstag und deshalb hat von der Leyen letzte Woche sogar den Nato-Gipfel in Washington gespritzt, um bei ihren potenziellen Wählern für gute Stimmung zu sorgen. Auch bei den Grünen, die zum Zünglein an der Waage werden können. Diese sind, wohl auch angesichts der Verluste bei den Wahlen, nicht abgeneigt. Man habe „ein konstruktives Meeting gehabt, bei dem es um eine stabile, demokratische Mehrheit im EU-Parlament“ gegangen sei, sagte Grünen-Präsident Bas Eickhout in Brüssel. Teilnehmer der Gespräche berichten, die alte und wohl neue Kommissionspräsidentin habe am Green Deal, zuletzt umstrittenes Herzstück der abgelaufenen Periode, durchaus festgehalten. Freilich mit Abstrichen – rund um den Verbrennermotor werde es wohl noch einige „Adaptierungen“ geben. Wenn der Plan aufgeht, dann ergibt die Zweckgemeinschaft auch auf europäischer Ebene unter Führung der EVP eine Ampel.
Rote Linie für die Unterstützung
Doch sowohl Grüne als auch Sozialdemokraten ziehen eine rote Linie: Eine Mehrheit mit den Stimmen der EKR sei inakzeptabel, heißt es. Auch die Liberalen halten daran fest: „Ohne klare und glaubwürdige Abgrenzung zu Rechtspopulisten können wir sie nicht unterstützen“, sagt etwa die neue Neos-Abgeordnete Anna Stürgkh nach einer Fragerunde mit der Kandidatin. Die „Patrioten“ (unter anderem mit den Leuten von Marine Le Pen, Viktor Orbán und der FPÖ) und die „Souveränen“ mit der AfD sind ohnehin hinter einer demokratischen Brandmauer. Doch die Abstimmung am Donnerstag ist anonym – man weiß also nicht, von wem die Stimmen kommen. Und die EKR mit der italienischen Ministerpräsidentin Georgia Meloni an der Spitze ist bei Bedarf durchaus „salonfähig“, man geht davon aus, dass aus ihren Reihen bzw. aus Italien mindestens einer der neuen Vizepräsidenten der Kommission kommt.
Die EKR ist auch nur bedingt hinter dem „Cordon Sanitaire“ im EU-Parlament, so wird etwa der Niederländer Johan van Overtfeldt ein weiteres Mal Vorsitzender des wichtigen Budgetausschusses werden. Die Vergabe dieser Ausschüsse ist ebenso wie die wichtiger Funktionen im EU-Parlament längst ausverhandelt, am Ende dieser Woche werden Anzahl und Zusammensetzung festgelegt. Von der Zahl der Abgeordneten her würden den Rechten zwei der insgesamt 14 Vizepräsidenten zustehen, sie werden aber wieder leer ausgehen. Ebenso wie Österreich, das bisher mit Othmar Karas (Erster Vizepräsident, ÖVP) und Evelyn Regner (SPÖ) gleich zwei der prestigeträchtigen Posten hatte – nun sind wieder andere an der Reihe. Bestimmt werden übrigens auch fünf sogenannte „Quästoren“, denen organisatorische Aufgaben im Parlament zukommen.
Metsola bleibt im Amt
Den Auftakt der konstituierenden Sitzung bildet zunächst morgen die Wiederwahl von Roberta Metsola (EVP) als Parlamentspräsidentin, eine Formalität ohne Gegenkandidaten. Ihre Amtszeit beträgt wie vorgesehen zweieinhalb Jahre, ob sie dann weitermachen kann oder die Sozialdemokraten das Amt beanspruchen, wurde offen gelassen.
Am Mittwochabend soll dann die allererste Resolution des neugewählten Parlaments verabschiedet werden: Es wird erwartet, dass die Abgeordneten darin ihre Unterstützung für die Ukraine bekräftigen werden. Laut Parlamentskreisen könnte diese Entschließung auch den derzeitigen ungarischen EU-Ratsvorsitz unter Viktor Orbán kritisieren. Parlamentssprecher Jaume Duch erklärte vor Journalisten in Brüssel, derzeit sei zwar keine weitere Resolution geplant. Die Agenda könne sich aber kurzfristig ändern.