Wenn er geht, kann es passieren, dass er über eine Unebenheit im Boden stolpert, die gar nicht da ist. Überhaupt hat sein Gang etwas Brüchiges. Sieht man ihn im Fernsehen schreiten, dann möchte man ihm gerne beispringen und am Arm nehmen. Bloß nicht einknicken, wegkippen, umfallen! Wenn er spricht, dann tut er dies wohltuend leise, leider wird seine Stimme immer wieder brüchig. Die Autorität des gesprochenen Wortes kommt ins Strudeln und wenn er es merkt, dann verstummt er für einige lange Momente, in denen das Land den Atem anhält: Ist er etwa zu alt? Joe Biden ist Jahrgang 1942.
Das ist doch kein Alter, sagen seine Fans, eine Amtsperiode steht ihm noch zu und er wird sie durchstehen. Seine Gegner wollen inzwischen wissen, dass er an Parkinson leidet, was, wie seine Anhänger betonen, erstens falsch und zweitens auch keine große Sache ist. Er ist schließlich der Präsident, der in seiner bisherigen Amtszeit viele Sozialreformen auf den Weg gebracht und das Land weise regiert hat, auch was die heikle Außenpolitik betrifft.
Die westliche Welt und das Alter
Aber es lässt sich nicht wegreden, sein Gesicht, das er den Kameras zuwendet, wirkt maskenhaft, glatt. Oft verharrt der Präsident in einem Zustand tranceartigen Lächelns, aus dem er nicht herauszufinden scheint. Joe Biden ist zu alt. Doch darf man Joe Biden sagen, dass er zu alt ist? Einfach so: Mister Präsident, Sie sind zu alt für dieses Amt, an dem das Schicksal nicht nur der Vereinigten Staaten von Amerika, sondern darüber hinaus eines großen Teils unserer politisch, militärisch und wirtschaftlich unruhigen Welt hängt!
Wie immer sich Biden letzten Endes entscheiden mag, sein beharrlicher Wille, im Weißen Haus noch weitere vier Jahre Macht auszuüben, ist der Wille eines Mannes, der den natürlichen Risiken und Prozessen des körperlichen und geistigen Abbaus so wenig entgehen kann wie jeder andere Mensch auch. Insofern ist der „Fall Biden“ einer, der die Einstellung der westlichen Welt zum Alter überhaupt betrifft.
Der Lustgreis
Ich hatte vor Jahren ein Gespräch mit dem Völkerkundler Hans Peter Duerr, Jahrgang 1943, über das Alter. Dabei tat er eine Äußerung, die er später unter dem heftigen Protest seiner Leserschaft, darunter viele feministische Leserinnen, publizierte. Er sagte sinngemäß, unsere Gesellschaft mit ihrer Potenzfixierung – Viagra wurde damals als epochales Wohlbefindlichkeitsmittel gepriesen – lasse den alten Menschen nicht mehr „in Würde impotent“ werden. Stattdessen erniedrige er sich zu einem Lustgreis, der von der Umwelt bestenfalls mit einer Mischung aus amüsiertem Staunen und kaum verhülltem Spott bedacht wird.
Damals musste ich an unseren Boulevard-Prominenten, den Unternehmer Richard „Mörtel“ Lugner, denken, Jahrgang 1932 (!), der ein TV-Team gelegentlich in sein Nachtkästchen hineinfilmen ließ, wo die Potenzmittel bereitliegen, damit er seinem jeweils neuesten Spätlolitaschwarm dienlich sein kann. Er lässt sich auch bei kleineren kosmetischen Eingriffen – „Aufspritzungen“, „Absaugungen“ – filmen, zum Gaudium all jener, die so etwas, vor dem Fernsehgerät hockend, „voll krass“ finden, ohne zu realisieren, dass auch sie sich, die scheinheiligen Claqueure, erniedrigen. Wir befinden uns hier schon an der Schwelle zum Seniorennacktdating …
Wäre es angemessen, den 91-jährigen Reality-TV-Star darauf hinzuweisen, dass er „zu alt“ für derlei Aventüren sei? Wer sich solcherart als moralischer Lehrmeister profilieren wollte, der hätte mit harscher Kritik zu rechnen. Altsein ist kein Hindernis! Dem wäre immerhin zu entgegnen, dass aus der neuen Freiheit rasch eine diffuse Pflicht erwuchs: Alter DARF kein Hindernis sein!
Nicht selten ist heute zu hören, niemand sei „zu alt für was auch immer“, man müsse eben auf den Rat der Ärzte hören, die Altersfitnessangebote nützen, Hirn und Herz trainieren, und im Übrigen auf die Stimme des eigenen Inneren lauschen. Das lebenslange Lernen wird durch das lebenslange Sich-im-Alter-behaupten-Wollen komplettiert. Auf diese Weise formt sich ein Sozialcharakter, der die Idee, man dürfe im Alter lockerlassen und den – wie es hieß – wohlverdienten Ruhestand genießen, zu einer neuen Form der Arbeitshaltung im – wie es nun heißt – „Unruhestand“ umpolt.
Die Attraktivität des Alters
Die Alterspädagogik und Alterspsychologie sehen darin einen erheblichen Fortschritt. Niemand möge sich im Alter nutzlos fühlen; niemand solle das Gefühl haben, am Rand des Lebens dahinzutreiben, ja, nach der beruflichen Verabschiedung, im existenziellen Ausgedinge zu landen. Wie immer man diese Mobilisierung der Seniorinnen und Senioren beurteilt, Lebenssinn wird an eine Altersgeschäftigkeit gebunden, die ein Indikator für Vitalität und Zukunftsoptimismus ist. Der alte Mensch lebt unter dem Erwartungsdruck, vital zu bleiben und – mögen die Krankheiten sich auch summieren – die eigene Zukunft rüstig zu gestalten. Fortan gilt es als Tugend, sich dem Alter produktiv entgegenzustellen, statt „die Hände in den Schoß zu legen“.
Natürlich ist es gerechtfertigt, einem senilen Präsidenten zu sagen, er sei nicht mehr fähig, sein Amt auszuüben und – horribile dictu! – dessen Verlängerung anzustreben. Denn hier ist die Gefahr des Schadens, der dadurch für andere entstehen könnte, maßgeblich. Aber in all den Fällen, in denen der alte Mensch, ohne Unheil anzurichten, nach allen Lebensmöglichkeiten hascht – also zugleich ein profitables Mitglied der krakenartig sich dehnenden Altersbelebungsindustrie (Reisen, Sport, Sex, Wellness, Spiritualität) wird –, wirkt das überkommene Modell des „würdevollen Alterns“ antiquiert. Menschen, die bloß in Würde altern wollen, statt Lebenslust aus ihrem Lebensabend zu pressen, stammen aus einem anderen Jahrhundert, oder?
Damit verändert sich die Situation des Alters, dessen Realität ohnehin nie besonders attraktiv war. Zwar animiert die Umwelt den Senior, die Seniorin, „aktiv“ zu bleiben, aber sie reagiert auch zunehmend widerwillig auf die immer größer werdende Masse der Alten, welche der Öffentlichkeit immer mehr kosten und immer mehr Platz wegnehmen. Zwar ist – laut hedonistischem Befund – niemand jemals zu alt für irgendetwas, man kraxelt auf Berge und flutet als Tourist ganze Städte, doch die Masse der Vergnügungslustigen bringt mit sich, dass die Wertschätzung durch die Jüngeren, die um ihre eigene Altersversorgung fürchten müssen, rapide schwindet.
Gewiss darf man dem alten Menschen sagen, dass er – beispielhaft gesprochen – zu alt sei, um ein Auto zu lenken, falls er im fließenden Verkehr eine Gefahrenquelle darstellt. Und ganz gewiss ist ein solches Urteil gerechtfertigt, sobald hohe und höchste Staatsämter ins Spiel kommen, die Macht nach innen und außen verleihen. Allgemein sollte jede Leistungsgesellschaft beachten: Will man dem Stress der Betagtheit entgegenwirken, dann darf die Maxime, wonach niemand „zu alt für was auch immer“ sei, kein Altersverleugnungsprinzip werden. Denn für jeden Menschen kommt der Moment, an dem ein Leben, das Achtung verdient, nur möglich ist, wenn es nicht in der altersstarrsinnigen Leugnung des eigenen Alters steckenbleibt.
Peter Strasser