Vergessen ist der Sager des französischen Präsidenten in Nato-Kreisen bis heute nicht. 2019 hatte Emmanuel Macron der westlichen Verteidigungsallianz den „Hirntod“ bescheinigt, nachdem die Nato-Mitglieder USA und Türkei im Syrienkrieg aneinander geraten waren und sich die Debatte über Sinn und Zukunft des Bündnisses mehr denn je im Kreis zu drehen schien.

Dass sich Macrons Analyse als Fehldiagnose erwiesen hat, ist fünf Jahre später offensichtlich. 75 Jahre nach ihre Gründung präsentiert sich die Nato bei ihrem am Dienstag begonnenen dreitägigen Gipfel in Washington so lebendig wie seit langer Zeit nicht mehr. Der russische Überfall auf die Ukraine hat bei den Mitgliedstaaten zu einer unerwarteten Geschlossenheit geführt, mit Schweden und Finnland traten zuletzt zwei Staaten der Nato bei, die lange neutral waren, angesichts der russischen Aggression nun aber auf eine gemeinsame Sicherheitsarchitektur setzen.

Keine Einladung zum Beitritt für Ukraine

Die Wiederauferstehung der Nato und das neu gefundene Selbstbewusstsein können allerdings nicht verdecken, dass die Allianz vor herausfordernden Monaten steht. So wird es beim Gipfel in Washington, an dem neben den Staats- und Regierungschefs der 32 Mitgliedstaaten auch der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj teilnimmt, vor allem darum gehen, wie das Bündnis die Ukraine weiter unterstützen kann.

Bereits vereinbart ist, dass dem angegriffenen Land neue Hilfen im Umfang von 40 Milliarden Euro innerhalb eines Jahres zugesagt werden. Der scheidende Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg, der im Oktober vom früheren niederländischen Premier Mark Rutte abgelöst wird, hatte diesen Betrag für mehrere Jahre in Folge gefordert, konnte sich damit aber nicht durchsetzen. Nicht festgelegt ist laut Diplomaten auch, wer von den Verbündeten wie viele Mittel aufbringen soll.

Nicht bekommen wird Selenskyj auch das, was er sich am meisten wünscht. So werden die Mitgliedstaaten zwar ein weiteres Mal bekräftigen, dass die Ukraine eines Tages Mitglied der Allianz wird, eine konkrete Betrittseinladung wird es in Washington aber nicht geben.

Sorge vor Deal zwischen Trump und Putin

Dass möglichst viel schon beim Gipfel festgezurrt wird, ist für die Nato-Staaten vor allem mit Blick auf einen möglichen Machtwechsel in den USA nach den Wahlen im November wichtig. So berichtete das Online-Portal „Politico“ vor kurzem unter Berufung auf Donald Trumps Umfeld, dass der republikanische Präsidentschaftskandidat über einen Deal mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin nachdenke, der auch ukrainische Gebietsabtretungen und einen Verzicht auf eine weitere Ost-Expansion der Nato beinhalten könnte. Aus Sicht der meisten europäischen Staaten wäre ein solches Vorgehen ein ungeheuerlicher und brandgefährlicher Tabu-Bruch.

Den Nato-Mitgliedern sitzt zudem noch Trumps erste Amtszeit in den Knochen, als der damalige US-Präsident regelmäßig mit einem Austritt drohte. Anfang des Jahres kündigte Trump dann an, Nato-Ländern mit zu geringen Verteidigungsausgaben keinen amerikanischen Schutz mehr zu gewähren. Entsprechend bemüht sind die Europäer hier auch, Trump schon präventiv den Wind aus den Segeln zu nehmen. In diesem Jahr sind es bereits 23 von 32 Mitgliedsstaaten, die mindestens zwei Prozent ihres Bruttoinlandsprodukts für Verteidigung ausgeben.

Dass die Nato ganz oben auf Trumps Prioritätenliste steht, ist aber unwahrscheinlich. So geht der Nato-Experte Markus Kaim davon aus, dass sich der Republikaner im Falle eines Wahlsieges zuerst der Innenpolitik widmen wird.