Die ukrainische Armee hat sich nach eigenen Angaben aus einem Teil der strategisch wichtigen ukrainischen Stadt Tschassiw Jar zurückgezogen. „Es war nicht mehr möglich, das Kanalviertel zu halten, nachdem der Feind eingedrungen war“, sagte ein ukrainischer Militärsprecher am Donnerstag. Die Verteidigungsstellungen seien zerstört und das Leben der eigenen Soldaten gefährdet worden. Das Armeekommando habe sich für einen Rückzug auf besser geschützte Positionen entschieden.
Doch auch dort setze der Feind seine Kampfhandlungen fort. Tschassiw Jar liegt in der ostukrainischen Region Donezk etwa 20 Kilometer westlich von Bachmut, das vor einem Jahr von russischen Truppen eingenommen und nach monatelangen heftigen Kämpfen dem Erdboden gleichgemacht wurde.
391 Angriffe auf zehn Siedlungen
Bei einem russischen Angriff auf die südukrainische Region Saporischschja sind unterdessen nach Angaben des örtlichen Gouverneurs zwei Menschen getötet worden. "Ein Mann und eine Frau starben durch feindlichen Beschuss", erklärte Gouverneur Iwan Fedorow am Donnerstag im Onlinedienst Telegram. Ein weiterer Mann sei verletzt worden. Russland führte nach Fedorows Angaben in den vergangenen 24 Stunden 391 Angriffe auf zehn Siedlungen aus.
Russland hat die Region Saporischschja zwar für annektiert erklärt, kontrolliert sie aber nicht zur Gänze. Am Mittwoch hatte Moskau der Ukraine vorgeworfen, ein Umspannwerk in der Nähe des Atomkraftwerkes Saporischschja mit Drohnen angegriffen zu haben. Dabei seien acht Menschen verletzt worden.
Russland meldete, ein MiG-29-Kampfflugzeug bei einem Angriff auf einen Militärflugplatz im Zentrum der Ukraine zerstört zu haben. Der Stützpunkt in Dolginzewo sei von einer ballistischen Rakete des Typs Iskander getroffen worden, erklärte das Verteidigungsministerium in Moskau am Donnerstag. Dabei seien der Kampfjet sowie andere Ausrüstung und Fahrzeuge zerstört worden. Das Ministerium veröffentlichte Bilder des Angriffs im Onlinedienst Telegram. Schon am Dienstag hatte Russland erklärt, fünf ukrainische Su-27-Kampfflugzeuge auf einer Basis nahe Myrgorod etwa 150 Kilometer von der russischen Grenze entfernt, zerstört zu haben.
Warten auf F-16-Kampfjets, Selenskyj bittet um mehr Flugabwehr-Systeme
Kiew wartet auf die Lieferung der lange erwarteten F-16-Kampfjets durch seine westlichen Verbündeten. Der Schutz der Stützpunkte, an denen sie stationiert werden, ist eine der großen Herausforderungen für die Ukraine und ihre Partner.
Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat die Verbündeten um mehr Flugabwehr-Systeme für sein Land gebeten. Er verwies dabei auf den jüngsten russischen Raketenangriff auf die Großstadt Dnipro, bei dem fünf Menschen getötet und über 50 weitere verletzt worden seien. Auch Wohngebäude und ein Krankenhaus sollen beschädigt worden sein. "Es gab auch Raketenangriffe auf unsere anderen Regionen, Lenkbomben auf Charkiw und unsere Frontstellungen", sagte Selenskyj gestern in seiner allabendlichen Videoansprache.
Beim Angriff auf einen Vorort von Charkiw wurden nach ukrainischen Angaben 14 Menschen verletzt. Zur Abwehr dieser Angriffe benötige die Armee seines Landes mehr Waffen, sagte Selenskyj. "Wir können das alles nur mit mehr Luftverteidigungssystemen, nur mit mehr Langstreckenangriffen auf die Stützpunkte und Luftstützpunkte der russischen Terroristen stoppen."
Kiew hofft auf Entscheidung bei Nato-Gipfel am Montag
Aktuell sind in der Ukraine vier Patriot-Flugabwehrsysteme im Einsatz. Zwei von ihnen wurden aus Deutschland zur Verfügung gestellt. Selenskyj hat den weiteren Bedarf seines Landes zuletzt auf mindestens sechs weitere Patriot-Systeme geschätzt. Die Ukraine hofft, dass es dazu beim NATO-Gipfel in der kommenden Woche eine Entscheidung gibt.
Der ukrainische Präsident hat zudem mehrfach von den Verbündeten die Erlaubnis eingefordert, die gelieferten westlichen Waffen auch gegen Ziele tief auf russischem Staatsgebiet - etwa gegen Militärflughäfen - einsetzen zu dürfen. "Wir erörtern all dies aktiv mit unseren Partnern auf allen Ebenen", sagte der Staatschef.
Bisher darf das ukrainische Militär schwere Waffen nur im Frontgebiet sowie östlich von Charkiw im Grenzgebiet zu Russland einsetzen, weil die Verbündeten Sorge vor einer zu weitreichenden Beteiligung am Krieg mit Russland haben. Bei Angriffen tief im russischen Hinterland setzt die Ukraine Drohnen ein, die nicht so viel Sprengwirkung haben wie etwa Marschflugkörper oder Raketen.
Russland setzt auf Infanterieangriffe
Neben Tschassiw Jar steht die Umgebung der ostukrainischen Stadt Pokrowsk in Donezk aktuell im Fokus des Frontgeschehens. Nach Darstellung der dort eingesetzten 47. mechanisierten Brigade der ukrainischen Streitkräfte versuchen russische Truppen, die Verteidigungslinien der Ukrainer zu durchbrechen. Dabei setze das russische Militär in erster Linie auf massierte und von Kampfdrohnen unterstützte Infanterieangriffe, sagte Brigadesprecherin Anastasija Blischtschik im Fernsehen. "Dass wir seit einem Monat kaum gepanzerte Fahrzeuge auf dem Gefechtsfeld sehen, ist zumindest einzigartig, weil ihnen (den Russen) diese Waffen ausgegangen sind", sagte Blischtschik. Aufklärungsdrohnen zeigten "riesige Friedhöfe" zerstörter gepanzerte Fahrzeuge. Deswegen versuche die russische Seite, das Kampfgeschehen mit starken Infanteriekräften zu dominieren. Nach Darstellung des Generalstabs in Kiew versucht das russische Militär, in der Region um Pokrowsk "die Schlagzahl zu erhöhen". Entsprechend würden die Verteidigungslinien verstärkt und mehr Munition an diesen Frontabschnitt gebracht.
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock mahnte am Donnerstag zu einer weiteren Unterstützung der Ukraine durch die NATO. "Russland wird auf absehbare Zeit die größte Bedrohung für unsere Sicherheit und Freiheit in Europa bleiben", sagte Baerbock am Donnerstag in Berlin in einer Bundestagsdebatte zum NATO-Gipfel kommende Woche in Washington. Der Westen müsse dagegen angehen, um Freiheit und Demokratie zu verteidigen. Wir haben uns das nicht ausgesucht", sagte Baerbock. "Wir wollten das nicht." Deutschland habe dabei eine besondere Verantwortung und wegen seiner Russland-Politik verlorenes Vertrauen mittlerweile wieder zurückgewonnen. "Das dürfen wir auch in den Haushaltsverhandlungen nicht verspielen", mahnte die Ministerin mit Blick auf den aktuellen Streit in der deutschen Ampel-Koalition über das Budget für das Jahr 2025.