Geradezu ungläubig verfolgte man im Labour-Hauptquartier in den vergangenen Wochen die immer neuen Resultate der Meinungsforschungs-Institute. Statt eines simplen Wahlerfolgs sagen die Umfragen Großbritanniens Partei der linken Mitte für die Unterhauswahlen am Donnerstag einen Triumph ohnegleichen voraus. Laut einer Erhebung, die die Londoner Times veröffentlicht hat, wird Labour 425 der 650 Sitze erobern können.

Auf der anderen Seite droht dagegen ein Debakel. Mittlerweile ist die Rede davon, dass die Hälfte der Minister von Premier Rishi Sunak ihre Mandate verlieren könnten. Auch der konservative Regierungschef muss um seinen Sitz bangen. Kein Wunder, dass sich bei Labour bei diesen Erwartungen Nervosität in die wachsende Zuversicht mischt, schon bald die Regierung zu übernehmen. Bei den letzten Wahlen erzielte die Partei 2019 noch eins ihrer schlechtesten Wahlergebnisse überhaupt.

Seither ist freilich die große Brexit-Aufregung verflogen. Und der damalige Chef der Labour Party, der Linkssozialist Jeremy Corbyn, schreckt keine Bürger in England mehr. Sein Nachfolger Keir Starmer hat ihn rücksichtslos entmachtet und aus der Partei verstoßen.

Kein Wiederbeitritt zur EU

Tatsächlich ist es dem neuen Vorsitzenden gelungen, die Partei nach und nach von radikaleren Positionen zurück ins Mittelfeld der britischen Politik zu bugsieren. Äußerst vorsichtig, als super-moderater Verein, hat Labour unter Starmer operiert. So hat Starmer in außenpolitischen Fragen wenig Reibungsfläche mit Sunaks Regierung zugelassen. Eine Rückkehr in die EU, wie er sie einmal forderte, mag er nicht mehr in Betracht ziehen. Höchstens erwägt er eine behutsame Wiederannäherung mit neuen Vereinbarungen zu Grenzfragen.

In „heißen“ Fragen wie der Eindämmung unerwünschter Immigration hat sich Labour zwar abgesetzt von den von Sunak geforderten Massen-Deportation von Flüchtlingen nach Ruanda. Das grundlegende Ziel der Einschränkung von „illegalem“ Zuzug verfolgt allerdings auch Starmers Partei.

Als verlässlich sucht sich Labour vor allem im Wirtschafts- und Finanzbereich zu präsentieren. Ausgaben müssten von den verfügbaren Geldern in der Staatskasse abgedeckt sein, sagt Starmers designierte Finanzministerin Rachel Reeves. Zugleich schloss sie höher Steuerlast für die „arbeitende Bevölkerung“ aus.