Der ungarische Regierungschef Viktor Orbán hat den ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj zu einer raschen Waffenruhe mit Russland aufgerufen. Ein solcher Schritt könne Friedensverhandlungen mit Moskau "beschleunigen", sagte Orbán am Dienstag bei seinem ersten Besuch in der ukrainischen Hauptstadt Kiew seit Kriegsbeginn vor mehr als zwei Jahren. Selenskyj hielt dem ungarischen Regierungschef entgegen, sein Land brauche einen "gerechten Frieden".

Keine Waffen

Orbán sagte bei einer gemeinsamen Pressekonferenz mit dem ukrainischen Präsidenten, er habe Selenskyj aufgefordert, "die Möglichkeit einer Waffenruhe schnell in Betracht zu ziehen". Eine solche Waffenruhe wäre "zeitlich begrenzt und würde es erlauben, die Friedensverhandlungen zu beschleunigen".

Orbán unterhält trotz des seit mehr als zwei Jahren andauernden russischen Angriffskrieges weiter enge Beziehungen zu Moskau. Sanktionen gegen Russland und Finanzhilfen der EU für Kiew hat der ungarische Regierungschef mehrfach verzögert. Zudem kritisierte er die Eröffnung der EU-Beitrittsverhandlungen mit der Ukraine. Im Oktober 2023 nahm Orbán zusammen mit Kreml-Chef Wladimir Putin an einem Gipfeltreffen in Peking teil. Es war das erste Treffen eines EU-Staats- und Regierungschef mit Putin seit Kriegsbeginn.

Orbáns Besuch bei Selenskyj war nach Angaben aus ukrainischen Regierungskreisen seit Monaten vorbereitet worden. Andere EU-Staats-und Regierungschefs sowie Vertreter weiterer westlicher Verbündeter der Ukraine reisen hingegen regelmäßig zu Solidaritätsbesuchen nach Kiew. Am Montag hatte Ungarn turnusgemäß die EU-Ratspräsidentschaft übernommen. Orbán sagte, er werde den Staats- und Regierungschefs der EU von seinen Gesprächen mit Selenskyj berichten, damit die EU die "notwendigen Entscheidungen" treffen könne.

Selenskyj: „Gemeinsame europäische Prioritäten“

Selenskyj sagte am Dienstag, Orbáns Besuch in Kiew zeige die "gemeinsamen europäischen Prioritäten", "der Ukraine und ganz Europa einen gerechten Frieden zu bringen". Zugleich rief der ukrainische Staatschef die EU auf, ihre Hilfen für sein Land beizubehalten. Es sei "sehr wichtig für uns alle in Europa, dass Europas Unterstützung für die Ukraine auf einem ausreichenden Niveau bleibt, auch hinsichtlich unserer Verteidigung gegen den russischen Terror", sagte Selenskyj.

Das Verhältnis zwischen Orbán und Selenskyj ist seit Kriegsbeginn extrem angespannt. In einer Rede nach seiner Wiederwahl im April 2022 hatte Orbán Selenskyj zu seinen "Gegnern" gezählt. Selenskyj wiederum hatte den ungarischen Regierungschef wegen seiner mangelnden Unterstützung für die Ukraine wiederholt scharf kritisiert.

Im Dezember waren sich Orbán und Selenskyj bei der Amtseinführung des argentinischen Präsidenten Javier Milei kurz begegnet und hatten nach Angaben Selenskyjs ein "offenes" Gespräch geführt. Im Internet kursierende Videos zeigten den hitzigen Wortwechsel, bei dem Orbán mit dem Rücken zur Wand stand. Ähnliche Bilder gab es nach einem weiteren kurzen Aufeinandertreffen beim EU-Gipfel in Brüssel in der vergangenen Woche.

Moskau zeigt sich unbeeindruckt

Der Kreml erklärte am Dienstag, von Orbáns Besuch in Kiew sei nicht viel zu erwarten. Russland greift die Ukraine seit Beginn seines Angriffskriegs im Februar 2022 täglich an. Am Dienstag gab Moskau die Zerstörung von fünf ukrainischen Kampfflugzeugen bekannt. Bei einem Raketenangriff auf einen Flugplatz nahe der zentralukrainischen Stadt Myrgorod seien fünf einsatzbereite Kampfjets vom Typ SU-27 zerstört worden, erklärte das russische Verteidigungsministerium. Zwei weitere Jets seien beschädigt worden.

Die Ukraine gab zunächst keine offizielle Stellungnahme zu den russischen Angaben ab. Luftwaffenkommandant Mykola Oleschtschuk bezeichnete sie "Propaganda".

Bisher kamen Kampfflugzeuge im Ukraine-Krieg nur relativ wenig zum Einsatz. Kiew hofft auf die Lieferung von F-16-Kampfjets aus dem Westen. Mehrere NATO-Staaten haben F16-Lieferungen zugesagt und ukrainische Piloten an dem Flugzeugmodell ausgebildet. Erste F-16-Jets etwa aus den Niederlanden, Belgien und Dänemark sollen in Kürze ausgeliefert werden. Russland hat bereits angekündigt, diese gezielt zu zerstören.

Streit um Transkarpatien

In der Vergangenheit hatte Orbán Hilfen für die von Russland angegriffene Ukraine verzögert und mehrfach versucht, Sanktionen gegen Moskau zu verhindern. Ungarn ist weiterhin stark von russischen Gaslieferungen abhängig, die trotz des Kriegs teilweise durch die Ukraine fließen. Allerdings will Kiew den zum Jahresende auslaufenden Vertrag nicht verlängern.

Ein weiterer Streitpunkt sind die Rechte der ungarischen Minderheit in der Ukraine, als deren Schutzpatron sich Orbán seit Jahren inszeniert. Bei einem Fußballspiel provozierte der 61-Jährige zudem mit einem Schal, auf dem die Umrisse von Großungarn aus dem Jahr 1920 zu sehen waren. Zu der Zeit gehörte unter anderem das heute in der Ukraine liegende Transkarpatien zu Ungarn.

In der Ukraine war Orbán das letzte Mal 2012. Zu der Zeit war noch der später nach Russland geflohene Viktor Janukowitsch als Präsident im Amt - und die Krim war noch nicht von Russland annektiert.