Der französische Präsident Emmanuel Macron hat sich verzockt: Noch steht die Sitzverteilung in der Nationalversammlung nicht fest, aber die Rechtsaußen-Partei Rassemblement National (RN) steht näher denn je an der Schwelle zur Macht. Der liberale, energische und über die Maßen von sich selbst überzeugte Präsident könnte in die Geschichte eingehen als derjenige, der den Rechtspopulisten den Weg an die Regierungsspitze geebnet hat.

Größte historische Zäsur seit fast 80 Jahren

Das Land steht vor der größten historischen Zäsur seit Ende des Zweiten Weltkriegs. Ob der Rassemblement National (Nationale Vereinigung) von Marine Le Pen eine relative oder gar absolute Mehrheit bekommt, wird sich erst am Abend des 7. Juli entscheiden. Derzeit steht nur fest, dass die Rechtspopulisten mit ihren Verbündeten in der ersten Runde der Parlamentswahl mit 33 Prozent den weitaus größten Anteil der Stimmen erhalten haben. Mindestens 37 Abgeordnete des RN wurden bereits im ersten Wahlgang direkt in die Nationalversammlung gewählt, darunter auch Le Pen.

Da Frankreich ein Mehrheitswahlrecht hat, hängt sehr viel davon ab, wie viele Kandidaten sich in der Stichwahl zurückziehen, um den Sieg eines RN-Kandidaten zu verhindern. Wegen der hohen Wahlbeteiligung von 67 Prozent haben sich in rund 300 von 577 Wahlkreisen je drei Kandidaten für die zweite Runde qualifiziert. Wirtschaftsminister Bruno Le Maire lehnte es am Montag ab, zur Wahl von Kandidaten der Linkspopulisten aufzurufen.

Dass der RN zum zweiten Mal innerhalb von drei Wochen einen massiven Wahlsieg eingefahren hat, liegt in erster Linie in Macrons Verantwortung. Es gab keinen zwingenden Grund, nach der Europawahl eine Neuwahl auszurufen. Er habe „Klarheit“ schaffen wollen, hatte Macron argumentiert, der einen Hang zu großen Gesten hat. Das Gegenteil ist eingetreten. Die Lage ist unklarer denn je. Macron mag die Hoffnung gehegt haben, dass die Wählerinnen und Wähler anders abstimmen, wenn es sich um eine nationale Wahl handelt. Tatsächlich hat der RN im Vergleich zur Europawahl sogar noch leicht zugelegt.

Macron war 2017 mit dem Versprechen angetreten, den Menschen die Gründe zu nehmen, für die Rechtspopulisten zu stimmen. Sieben Jahre später ist stattdessen das Szenario nähergerückt, in dem Macron eines Tages der Rechtspopulistin Marine Le Pen sein Amt übergeben muss – samt Empfang auf dem roten Teppich vor dem Elysée-Palast und den Codes für die Atombombe. Grundsätzlich ist Macron bis 2027 gewählt, aber Le Pen macht deutlich, dass die Rechtspopulisten nicht nur die Regierung, sondern auch die Präsidentschaft anstreben. Darauf zielt Le Pen ab, auch für den Fall, dass der RN nach der zweiten Runde der Parlamentswahl keine absolute Mehrheit hat. RN-Parteichef Jordan Bardella will dann nicht Premierminister werden, um zu verhindern, dass er das Amt nach kurzer Zeit durch ein Misstrauensvotum wieder verliert.

Eine Art Technokraten-Regierung

In diesem Fall dürfte Macron eine Art Technokraten-Regierung ernennen, die sich um das Tagesgeschäft kümmert, aber keine Gesetzesvorhaben durchbringen kann, weil die Mehrheit fehlt. Die Nationalversammlung wäre zersplittert und blockiert, weil keines der Lager eine Mehrheit bekäme. Le Pen würde dies vermutlich nutzen, um Macron den Rücktritt nahezulegen, auch wenn der Präsident dies ausgeschlossen hat. Mit seinem Alleingang hat Macron auch seine bisher engsten Unterstützer vor den Kopf gestoßen. Wirtschaftsminister Bruno Le Maire und Innenminister Gérald Darmanin sind bereits auf Distanz gegangen. Sie dürften sich demnächst als Kandidaten für seine Nachfolge in Stellung bringen. Macron, der 2027 nicht wieder antreten kann, hat es bisher vermieden, selbst einen möglichen Nachfolger aufzubauen.

Als Macron 2017 sein Amt antrat, ließ die Inszenierung seines Wahlsiegs bereits erkennen, was seine Amtszeit prägen würde: Der damals 39-Jährige legte eine lange Strecke im Hof des Louvre zu den Klängen der Europahymne zurück. Ganz allein. Und so allein, wie er damals sein Amt antrat, steht er womöglich auch am Ende da.