„Ich möchte jede Veränderung in meiner Stadt mitbekommen“, sagt Ali Al Baroodi. „Seitdem Mossul vom IS befreit wurde, mache ich jede Woche einen Spaziergang durch die Stadt und dokumentiere mit der Kamera, was sich gerade tut.“ Früher sei er nicht auf die Idee gekommen, gibt der 42-Jährige zu, doch jetzt schreibe er sogar Dinge nieder, die ihm im Zusammenhang mit seiner Stadt wichtig sind. „Jeder Riss in einer Mauer wird für mich zum Symbol.“ Dinge werden wertvoll, wenn man Angst hat sie zu verlieren. Und Mossul war verloren.
Am 29. Juni 2014 riefen die Dschihadisten der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) ihr Kalifat aus. Am 4. Juli stieg der ernannte Kalif Abu Bakr Al Baghdadi auf die Kanzel der Al Nuri Moschee und predigte in der damals zweitgrößter Stadt des Irak den Dschihad, der nun erfolgreich in einem eigenen Staat gipfelte. Mit seiner Predigt versuchte Baghdadi, sich in die Tradition mittelalterlicher muslimischer Herrscher zu stellen, denen die Freitagspredigt als fundamentale Bestätigung ihres Machtanspruchs diente.
„Wir wurden abgeschnitten“
Baroodi, seine Familie und Freunde waren schockiert. „Über Nacht waren wir von der Welt abgeschnitten, vom Rest unseres Landes, von unseren Freunden.“ Zunächst funktionierte die Kommunikation noch, erzählt er, der die ganze Zeit geblieben ist, während viele andere in Panik Mossul verließen. Zwei Jahre später, im Juli 2016, sei dann jegliche Kommunikation verboten worden, die Nutzung des Internets und der Telefone unter Todesstrafe gestellt. Baroodi ging in die innere Emigration, las Bücher wie am Fließband. „Literatur rettete mich“, sagt er rückblickend.
Sein Stadtspaziergang beginnt an der alten Brücke, die die beiden Teile Mossuls seit 1930 verbindet. Sie ist die älteste Verbindung zwischen dem linken und dem rechten Tigris-Ufer. Der rechte Teil mit der Altstadt und dem Bazar wurde nahezu vollständig zerstört, während die linke Seite mit der Universität nicht so viele Schäden aufwies und schnell wiederaufgebaut werden konnte. „Alle Brücken wurden im Krieg zerstört“, erzählt Baroodi und meint mit Krieg den Kampf gegen den IS, an dem zwölf Länder beteiligt waren. „Die alte Brücke war die erste, die wiederhergestellt wurde, nachdem Daesh (arabisch für IS) besiegt war.“ Der hagere Mann mit der hohen, leisen Stimme geht langsam, bedächtig, fast respektvoll über den neuen Teil der alten Brücke und genießt die untergehende Sonne über dem Tigris.
Mossul in vier Tagen erobert
Es dauerte nur vier Tage, bis die Dschihadisten die Zwei-Millionen-Stadt erobert hatten. Aber acht Monate vergingen, bis sie 2017 wieder zurückerobert werden konnte. In Pick-ups kamen die schwarz gekleideten IS-Kämpfer aus Syrien und überrollten im Sturm zunächst Mossul, dann Tikrit. Auf ihrem Eroberungsfeldzug durch den Irak, stürmten sie auf Bagdad zu, wurden aber in Samarra, rund 130 Kilometer nördlich gestoppt. Trotzdem belief sich die Ausdehnung ihres Dschihadisten-Staates in Syrien und dem Irak auf ein Territorium, das in etwa so groß war wie Großbritannien.
Im Gegensatz zur Terrororganisation Al-Kaida fünf Jahre vorher, deren Ziel es war Chaos zu schaffen, wollten die Terroristen vom IS einen eigenen Staat. Das Kalifat währte drei Jahre lang. Die Iraker nennen den IS Al-Kaida 2.0, weil viele der Mitglieder von Al-Kaida nach dessen Vertreibung sich dem IS anschlossen. Auch Abu Bakr Al Baghdadi, der Kalif, operierte zuvor im irakischen Widerstand gegen die US-Besatzung. Er wurde von den Amerikanern festgenommen, im größten US-Gefängnis im Süden Iraks, Camp Bucca, interniert und schließlich freigelassen, als die US-Truppen 2010 den Irak zum ersten Mal verließen. Kurze Zeit danach rief er die Terrormiliz ISIS aus, die dann verkürzt zum IS wurde. Ausländische Kämpfer aus aller Welt, angezogen durch eine gewisse Faszination für einen islamischen Staat, gliederten sich ein und übernahmen teilweise die Kontrolle über gewisse Abschnitte des Kalifats. Doch das letzte Wort hatten immer Iraker.
„Safe“ steht an vielen Wänden der Altstadt. Hier wurden Minen geräumt. Die Ruinen können betreten werden. Die Unesco restauriert 125 Häuser mit Unterstützung vor allem der EU, aber auch von Hilfsorganisation aus aller Welt. Baroodi dolmetscht für die internationalen Helfer. Nach und nach werden die fertigen Häuser eingeweiht, werden Literaturlesungen und Konzerte darin abgehalten. Kunst und Kultur in Ruinen: das ist Mossul noch immer dieser Tage. Doch die Stadt belebt sich, rappelt sich auf zu neuem Glanz, zu neuer Bekanntheit.
Baroodi führt die Stadtspaziergänger einen Hügel hinauf. Von dort hat man den besten Blick auf die Al Nuri Moschee, die in der Schlacht um Mossul komplett zerstört wurde. „Sie haben Steine der Moschee noch hunderte von Metern entfernt gefunden, so heftig war die Detonation.“ Es werde noch lange dauern, bis sie wiederaufgebaut sei, seufzt Baroodi. „Was sind das für Muslime, die ihr eigenes Haus zerstören?“, fragt er rhetorisch und seine Stimme klingt tief traurig. Ali ist sich sicher, dass es der IS war, der die Moschee auf seinem Rückzug zerstört hat, auch wenn dieser es stets bestritt und die alliierten Luftangriffe dafür verantwortlich machte.
Hoffnung auf Zukunft
„Sie haben ihren Staat verloren, ihre organisatorischen Strukturen, ermorden aber noch immer Schafhirten und Trüffelsucher, vor allem in Syrien“, sagt Baroodi. Trotzdem glaubt er nicht, dass der IS weiterleben wird, „so wie hier jedenfalls nicht und nicht in absehbarer Zeit“. Seine Studenten an der Universität, denen er Englisch lehrt, hätten eine wohltuende Offenheit, die es vorher nie gab. Er selbst und seine Generation bewahrten eine gewisse Angst und Skepsis vor der Zukunft, aber die Jungen hätten keine Angst. „Sie haben eine gute Gegenwart und eine bessere Zukunft.“ Die sozialen Medien seien das Fenster zur Welt, von denen die junge Generation regen Gebrauch mache. You-Tuber verbreiteten die Nachricht von einem aufblühenden Mossul, das noch nie so sicher war wie heute, sagt Baroodi. Auch wenn die Ideen des IS weiter existierten, würden sie durch andere Visionen ausgeglichen.
Birgit Svensson