Israel und die Hisbollah-Miliz im Libanon treiben auf einen Krieg zu, den sie nicht wollen. Die Chefs der schiitischen Islamisten-Miliz wollen Israel mit mehr Raketenangriffen zwingen, einer Waffenruhe in Gaza zuzustimmen. Israels Armee bereitet nach eigenen Angaben eine Offensive gegen die Hisbollah vor. Die Eskalation könnte das ungeschriebene Stillhalteabkommen zwischen den Kontrahenten zerstören.

100.000 Kämpfer, 200.000 moderne Raketen

Die Hisbollah ist mit rund 100.000 Kämpfern und bis zu 200.000 modernen Raketen für ein Israel ein gefährlicherer Gegner als die Hamas in Gaza, die wie die Hisbollah vom Iran unterstützt wird. Das Regime in Teheran sieht die Hisbollah als militärische Trumpfkarte, die für den Fall einer existenziellen Bedrohung für die Islamische Republik in Reserve gehalten wird. Diese strategische Überlegung des Iran ist einer der Gründe, warum die Hisbollah seit Ausbruch des Gaza-Krieges im Oktober bisher noch keine neue Front gegen den gemeinsamen Erzfeind Israel eröffnet hat.

Israel und die Hisbollah halten sich seit fast zwanzig Jahren mit größeren Militäraktionen zurück. Der letzte Krieg zwischen beiden endete 2006 mit der Einrichtung einer Pufferzone zwischen der israelisch-libanesischen Grenze und dem Fluss Litani rund 30 Kilometern weiter nördlich. Damals hatte die Hisbollah mit der Entführung von israelischen Soldaten einen Gegenschlag Israels provoziert, der im Libanon große Zerstörungen anrichtete; viele Libanesen gaben der Hisbollah die Schuld daran.

Seit dem Ausbruch des Gaza-Krieges ist es mit der relativen Ruhe im Grenzgebiet vorbei: Die israelische Armee zählte nach Angaben von Sprecher David Hagari seit Oktober über 5000 Geschosse, die von der Hisbollah über die Grenze in den Norden Israels gefeuert wurden. Zehntausende Bewohner in Israel und Libanon mussten aus dem Grenzgebiet fliehen. Im Ernstfall könnte die Hisbollah jeden Tag tausende Raketen nach Israel schicken und die israelische Luftabwehr überfordern.

Jüngst feuerte die Hisbollah binnen Stunden mehr als 200 Geschosse auf den Norden Israels ab – als Rache für den Tod eines Hisbollah-Offiziers bei einem israelischen Luftschlag. Es geht der Hisbollah aber um mehr: Anführer Hassan Nasrallah sagte, die Angriffe bildeten eine „Unterstützungsfront“ für die Hamas in Gaza. Er machte eine Rückkehr zur Normalität an der Grenze zu Israel von einem Ende der Kämpfe in Gaza abhängig. Nasrallah wolle Israel militärisch unter Druck setzen, um eine Zustimmung der Netanjahu-Regierung zu einer Waffenruhe in Gaza zu erzwingen, sagte die Hisbollah-Expertin Amal Saad von der Universität Cardiff.

Der Raketenbeschuss mit dem Ziel einer Feuerpause ist eine riskante Taktik, denn sie setzt voraus, dass Israel die Botschaft versteht. Dass die chronischen Spannungen an der israelisch-libanesischen Grenze trotz des Gaza-Konflikts bisher nicht in einen Krieg umgeschlagen sind, sei nicht selbstverständlich, sagte der Nahost-Experte Omar Rahman von der Denkfabrik Middle East Council in Katar der Kleinen Zeitung. Israel und die Hisbollah hätten dies mit „Disziplin, Berechnung und Glück“ bisher abwenden können.

Werden von Israel die „Spielregeln geändert“?

Das könnte schiefgehen. Um den Druck auf Israel weiter zu erhöhen, veröffentlichte die Hisbollah jetzt Aufnahmen einer Aufklärungsdrohne über der israelischen Hafenstadt Haifa. Israels Außenminister Israel Katz drohte der Hisbollah damit, „die Spielregeln zu ändern“ – das heißt: die israelische Zurückhaltung an der Grenze zum Libanon aufzugeben. Ein Krieg würde die Hisbollah „zerstören“ und den Libanon verwüsten, so Katz.

Die USA, die Israel und die Hamas zu einer Feuerpause in Gaza bewegen wollen, sehen das ähnlich. Präsident Joe Biden schickte seinen Berater Amos Hochstein zu Gesprächen nach Israel und in den Libanon, wo er Wege zur Deeskalation sondieren soll. Eine Feuerpause in Gaza könnte den Konflikt an der israelisch-libanesischen Grenze beenden, sagte Hochstein. Die Vereinigten Staaten wollten einen „größeren Krieg“ in Nahost unbedingt verhindern.