Was es heißt, der rücksichtslosen Machtpolitik Moskaus ausgeliefert zu sein, hat die Familie von Kaja Kallas am eigenen Leib erfahren. Während des Zweiten Weltkriegs wurden Mutter, Großmutter und Urgroßmutter von sowjetischen Soldaten im Viehwaggon nach Sibirien deportiert, zurück ins annektierte Estland durften die drei erst nach zehn entbehrungsreichen Jahren.

Die eigene Familiengeschichte gepaart mit einer Kindheit in der Sowjetunion haben auch die politische Karriere der estnischen Premierministerin stark geprägt. Schon vor dem russischen Überfall auf die Ukraine warnte Kallas immer wieder vor den Machtgelüsten des Kreml, nach dem 24. Februar 2022 wurde sie in der EU eine der vehementesten Fürsprecherinnen des angegriffenen Landes. Das nur 1,3 Millionen Einwohner zählende Estland stellte 1,1 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts für militärische und zivile Hilfe zur Verfügung, Kallas selbst plädierte in Interviews und im Kreise ihrer Amtskollegen unermüdlich für ein wehrhaftes Europa und eine glaubhafte Abschreckung gegenüber Russland.

Die klare Kante gegenüber dem russischen Präsidenten Wladimir Putin haben der 45-jährigen Juristin, die vor ein paar Monaten vom Kreml zur Fahndung ausgeschrieben wurde, aber nicht nur europaweit Anerkennung und Respekt eingebracht. Die seit 2021 amtierende Premierministerin wird auch immer wieder für internationale Top-Jobs gehandelt. Kallas‘ Name fiel, als es darum ging, einen Nachfolger für Nato-Generalsekretär Jens Stoltenberg zu finden, nun gilt sie als das heißeste Eisen für das prestigeträchtige Amt der EU-Außenbeauftragten.

Mit einem Job in der EU-Kommission wäre die zur liberalen Parteifamilie gehörende Politikerin aber nicht die Erste in ihrer Familie. Bereits von 2014 bis 2018 war Kallas‘ Vater Siim EU-Verkehrskommissar.