Ein einziges Mal, vor zehn Jahren, hat es geklappt: Damals, 2014, wurde bei den EU-Wahlen das Spitzenkandidatenprinzip eingeführt, in der Folge kam Jean-Claude Juncker von der EVP an die Spitze der EU-Kommission, der Sozialdemokrat Martin Schulz wurde Präsident des EU-Parlaments. Bekanntlich hebelten die Staats- und Regierungschefs der EU-Länder das demokratisch basierte Prinzip schon bei den nächsten Wahlen wieder aus, statt Wahlsieger Manfred Weber zogen sie 2019 Ursula von der Leyen aus dem Hut.
Diesmal läuft alles auf einen Mittelweg zwischen den beiden Modellen hinaus. Von der Leyen ließ sich als EVP-Spitzenkandidatin nominieren, mit der klaren Absicht, nicht ins Parlament zu wechseln – sie strebt eine zweite Amtszeit als Kommissionspräsidentin an und alle Zeichen stehen darauf, dass der Plan aufgeht. Heute Abend treffen die Staats- und Regierungschefs bei einem Abendessen in Brüssel zusammen und beraten über die Vergabe der offenen Top-Jobs, doch alles deutet darauf hin, dass es nicht mehr viel zu beraten gibt. G7-Gipfel oder Schweizer Friedenskonferenz boten schon Gelegenheit zur Absprache.
Die EVP gibt als klarer Wahlsieger den Takt an, somit scheint Ursula von der Leyen als EU-Kommissionschefin ebenso gesetzt zu sein wie eine weitere Amtszeit von Roberta Metsola an der Spitze des EU-Parlaments. Zum „Ausgleich“ würde der Posten des Ratspräsidenten an die Sozialdemokraten fallen – der portugiesische Ex-Premier António Costa, der über einen Korruptionsfall in seiner Regierung stolperte, danach aber alle Vorwürfe entkräften konnte, gilt als Fixstarter. Die Liberalen, die bisher die schwarz-rote Allianz im Parlament als dritter Partner weitgehend unterstützt hat, wird mit dem Posten des Hohen Außenbeauftragten belohnt, für den Estlands Premierministerin Kaja Kallas vorgesehen ist.
Zu den Top-Jobs gehört auch der heuer noch nachzubesetzende Nato-Generalsekretär; dafür hat Mark Rutte die besten Karten. Seine Zeit als niederländischer Premierminister ist abgelaufen, er gehört auch dem liberalen Lager an. Pikant: Ruttes Partei VVD steht im EU-Parlament gerade vor dem Hinauswurf aus der Renew-Fraktion, weil sie eine Koalition mit den Rechtsparteien eingegangen ist. Eine endgültige Entscheidung steht aber noch aus.
Keine Herausforderer in Sicht
Herausforderer und Konkurrenten um die Top-Jobs sind vorerst nicht in Sicht. Eine Kandidatur des italienischen Polit-Urgesteins Mario Draghi, der von der Kommission mit der Erstellung eines Zukunftsberichtes beauftragt wurde, gilt schon seit einiger Zeit als nicht wahrscheinlich. Der Belgier Didier Reynders, bisher Justizkommissar, hat sich längst schon anderweitig umgesehen, er strebt mit besten Chancen das Amt des Europarat-Generalsekretärs in Straßburg an. Die Entscheidung soll noch im Juni fallen.
Derzeit formieren sich die Fraktionen des EU-Parlaments neu, die EVP könnte am Ende mit mehr als 200 Mitgliedern die weitaus stärkste Gruppe sein. Die Sozialdemokraten haben längst signalisiert, dass sie Ursula von der Leyen wieder unterstützen würden, ebenso die Liberalen und im Grunde auch die Grünen, die bisher auf Gegenkurs waren. Dazu kommt, dass die EVP in letzter Zeit immer weniger Berührungsängste mit den Rechten gezeigt hat und beste Kontakte etwa zur italienischen Premierministerin Giorgia Meloni pflegt – die sich freilich offiziell noch nicht festlegen will, ob sie von der Leyen auch als zukünftige Präsidentin sieht.
Mitsotakis ins Spiel gebracht
Doch passieren kann immer noch alles. Zwar wurde die nächste Runde der Klage gegen von der Leyen, bei der es um geheime Absprachen im Zuge der Impfstoffbeschaffung ging, auf Ende des Jahres verlegt, doch lauern noch einige Fallen, die das ganze Konstrukt ins Wanken bringen könnten. Der bisherige Ratspräsident Charles Michel, der zu einer Art Erzfeind der Präsidentin geworden ist, lässt nichts unversucht, ihr auf den letzten Metern noch Schwierigkeiten zu machen. So meldete die Plattform Politico am Wochenende, Michel mache sich plötzlich für den griechischen Premierminister Kyriakos Mitsotakis (auch der EVP zugehörig) als Kommissionspräsident stark. Michel ist selbst auf Jobsuche, er musste zuletzt eine auch für die eigene Partei völlig überraschende Kandidatur für das EU-Parlament nach wenigen Tagen wieder zurückziehen. Im Rat braucht der Personalvorschlag jedenfalls eine qualifizierte Mehrheit.
Die größte Hürde ist jedoch das EU-Parlament. Um eine Mehrheit zu bekommen, muss die Präsidentin noch viel Überzeugungsarbeit leisten und wohl auch viele Versprechungen machen. Die Abstimmung erfolgt geheim und selbst aus den eigenen Reihen kommt Widerstand – die EVP macht sich bereits auf Suche nach Verbündeten außerhalb der Sozialdemokraten und Liberalen.