Was für die EU spricht
1. Keine Frage, die EU ist ein Friedensprojekt. Kriege gehörten über alle Jahrhunderte zum Alltag Europas, seit der Gründerzeit der heutigen EU vor 70 Jahren sind sie Geschichte. Der Angriff Russlands auf die Ukraine zeigt, wie wenig selbstverständlich das ist.
2. Der gemeinsame Binnenmarkt, die Umsetzung der ursprünglichen Idee einer Wirtschaftsgemeinschaft, ist nicht mehr wegzudenken. Dadurch relativiert sich unter anderem der meist abschätzig verwendete Begriff von Österreich als „Nettozahler“: Laut Wirtschaftskammer beträgt allein das Exportvolumen in andere EU-Länder 137 Milliarden Euro jährlich.
3. Die EU kann sich, in Verbindung mit den assoziierten Ländern wie Norwegen oder Schweiz, als drittstärkste Wirtschaftsmacht der Welt mit anderen Blöcken wie USA oder China messen und globalen Einfluss nehmen; einzelne Länder hätten hier kaum Gewicht.
4. Das gilt auch für Handelsverträge, das Zollwesen oder gemeinsamen Einkauf, wie er nun etwa im Rahmen der künftigen Verteidigungsunion angestrebt wird. Das gemeinsame Wettbewerbsrecht sichert im selben Augenblick intern ein „level playing field“, damit sich die Mitgliedsländer nicht in den Rücken fallen können.
5. Dazu gehört auch die Währungsunion, in der sich im Augenblick 20 der 27 EU-Länder (sowie einige Länder außerhalb) befinden. Wer etwa gerne Urlaub im Süden macht, kennt wahrscheinlich das jüngste Mitglied im Klub: Kroatien.
6. Wegfall der Grenzen – einer der am meisten unterschätzten Vorteile der Union. Alle EU-Länder bis auf Irland gehören dem Schengenabkommen an (Bulgarien und Rumänien wegen Österreichs Blockade derzeit nur auf dem Luftweg), was zum völlig freien Grenzverkehr führt. Sofern nicht wegen einer Pandemie oder zur angeblichen Terrorbekämpfung die Kontrollen wieder hochgefahren werden.
7. Der Kampf gegen die Folgen des Klimawandels ist nicht nur seit dem „Green Deal“ eines der Hauptanliegen der EU. Es herrscht weitgehend Einigkeit darüber, dass Maßnahmen nur überregional Sinn haben und auch gemeinsam umgesetzt werden müssen. Genauso kann man aber auch im EU-Rahmen auf die Bremse steigen, wie jüngst rund um das Ende des Verbrenners oder beim Renaturierungsgesetz der Fall.
8. Ein wesentlicher Teil aller Gesetze in den Mitgliedsländern (man spricht von etwa 50 Prozent) hat seinen Ursprung in Brüssel bzw. Straßburg, damit herrschen überall gleiche Bedingungen – ein Faktor, der sowohl für die Wirtschaft, als auch für das Gemeinwohl wichtig ist. Dazu kommt auch noch die Arbeit der rund 40 EU-Agenturen.
9. Rechtssicherheit schaffen unter anderem der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) mit dem vorgelagerten Europäischen Gericht und die Prüfer des Europäischen Rechnungshofes, alle mit Sitz in Luxemburg. Die Kommission als Hüterin der Verträge wacht über die Rechtsstaatlichkeit, unterstützt etwa durch die Anti-Betrugsbehörde OLAF oder die Europäische Staatsanwaltschaft.
10. Die EU als Sozialunion sorgt auch für mehr Gerechtigkeit bei Löhnen und am Arbeitsplatz, für bessere Lebensbedingungen etwa bei der Trinkwasserversorgung oder Wegfall der Roaminggebühren.
... und was man besser machen sollte
1. Die EU als Bürokratiemonster: Ursula von der Leyen versprach eine Reduktion der Vorschriften um 25 Prozent, davon ist nichts wahrzunehmen. Neue Herausforderungen machen neue Regeln nötig – siehe etwa beim Digital Services Act oder Digital Markets Act.
2. Statt an einem gemeinsamen Strang zu ziehen, gibt es Rivalität zwischen den EU-Institutionen. Schön zu sehen bei „Sofagate“, als bei einem Besuch in der Türkei kein Sessel für die Kommissionspräsidentin vorgesehen war und Ratspräsident Charles Michel ohne Zögern Platz nahm.
3. Was fehlt, ist ein echter „Außenminister“. Der aktuelle Hohe Außenbeauftragte, Josep Borrell, ist nicht nur als Person und wegen seiner politischen Einstellung umstritten, er ist auch als Teil der Kommission, der unabhängig die EU (also auch den Rat) nach außen vertreten soll, in einer unangenehmen Zwitterrolle.
4. Der Großteil des EU-Budgets fließt in den Agrarbereich, viel Geld gibt es auch für Kohäsion und das Heranführen benachteiligter Länder. Doch die Entwicklungen gehen nur langsam voran, die Folge ist weiterhin ein großes Gefälle zwischen West und Ost, Nord und Süd, armen und reichen Ländern.
5. Das EU-Budget, ein Prozent der Wirtschaftsleistung, ist zu 100 Prozent verplant, es bleibt im Krisenfall wenig Spielraum. Anders als die Mitgliedsländer kann die EU keine Schulden aufnehmen, das Corona-Aufbauprogramm „Next Generation EU“ war die Ausnahme, um die wild gerungen wurde. Um in Zukunft die Aufgaben meistern zu können, müsste die Frage geklärt werden, aber hier sind die Länder noch weit auseinander.
6. Trotz einiger Bemühungen, vor allem durch das Parlament, mangelt es an Transparenz. Die meisten Bürgerinnen und Bürger in den 27 Ländern wissen um die komplexen Entscheidungsprozesse nicht Bescheid, dazu kommt noch das Phänomen, dass nationale Politiker zwar an allen Entwicklungen in Brüssel mitwirken, das Ergebnis, ein mitunter unliebsamer Kompromiss, dann aber im Heimatland auf „die EU“ schieben. In Österreich ist die Zustimmung zur EU am geringsten in allen Ländern.
7. Zu viele Versprechungen, zu wenig Gehaltenes: So manches, was als großer Erfolg oder gar „historischer Moment“ gefeiert wird, entpuppt sich als Seifenblase. So hat es acht Jahre gedauert, bis endlich eine Reform des Migrationswesens beschlossen werden konnte, und nun muss man noch abwarten, was davon praxistauglich ist.
8. Ursprünglich sinnvolle Regelungen wie das Einstimmigkeitsprinzip sind inzwischen zur erpresserischen Vetokeule geworden.
9. Mit der möglichen Erweiterung ist eine innere Reform unabdingbar verknüpft, doch hier mahlen die Mühlen noch langsam. Westbalkan oder Anwärter wie die Ukraine könnten ewig in einer verhängnisvollen Warteschleife bleiben.
10. Ein ewiges Handicap: Es prallen zu viele Interessen aufeinander. Wirtschaft, Landwirtschaft, Klima-, Finanz- und Gesundheitspolitik stehen oft im Gegensatz zueinander.