Die angestrebte Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO wird nach Angaben von Generalsekretär Jens Stoltenberg forciert. Die Allianz sei entschlossen, den Weg des Landes hin zu einem Beitritt abzukürzen, sagte Stoltenberg am Freitag zum Abschluss von Beratungen der Außenministerinnen und Außenminister der 32 NATO-Staaten in Prag. Das zweitägige Treffen diente zur Vorbereitung des nächsten Bündnisgipfels.

Stoltenberg rief die Alliierten dazu aufgefordert, der Ukraine Militärhilfen im Wert von jährlich mindestens 40 Milliarden Euro zu garantieren. Es gehe dabei auch darum, dem russischen Präsidenten Wladimir Putin zu zeigen, dass er seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine nicht gewinnen werde, erklärte Stoltenberg. Der Betrag von 40 Milliarden Euro würde in etwa der bisherigen jährlichen Unterstützung der Alliierten seit dem Beginn der russischen Invasion entsprechen.

Zur Frage, wie eine faire Lastenteilung gewährleistet werden könnte, sagte Stoltenberg, eine Option sei es, den Beitrag der einzelnen Mitgliedsstaaten auf Grundlage von deren Bruttoinlandsprodukt zu berechnen. Demnach müssten die USA, Deutschland, Großbritannien, Frankreich und Italien den mit Abstand größten Teil der jährlich 40 Milliarden Euro zahlen. Stoltenbergs Wunsch ist es, dass sich die 32 NATO-Staaten bis zum Gipfeltreffen im Juli in Washington auf eine gemeinsame Position einigen. Ob dies gelingen kann, ist allerdings ungewiss. Länder wie Frankreich und Italien geben bislang nur einen vergleichsweise geringen Anteil ihr Bruttoinlandsprodukts für die militärische Unterstützung der Ukraine aus. Zudem gilt es als ungewiss, ob US-Präsident Joe Biden wenige Monate vor der Präsidentenwahl langfristige Finanzierungszusagen machen will.

„Ukraine hat das Recht auf Selbstverteidigung“

Stoltenberg begrüßte am Rande des Treffens die Entscheidung der USA, Beschränkungen für den Einsatz von amerikanischen Waffen gegen Ziele auf russischem Gebiet zu lockern. „Die Ukraine hat das Recht auf Selbstverteidigung. Und dazu gehört auch das Recht, legitime militärische Ziele innerhalb Russlands anzugreifen“, sagte der Norweger am Freitag in der tschechischen Hauptstadt. Diese Tatsache sei umso wichtiger, da Russland eine neue Front eröffnet habe und vom Norden die Region Charkiw angreife, betonte er. Dort seien die Frontlinie und die Grenzlinie mehr oder weniger dieselbe und Russland attackiere die Ukraine auch mit Raketen und Artillerie an, die in Russland stationiert seien. „Natürlich muss die Ukraine in der Lage sein, zurückzuschlagen und sich zu verteidigen“, sagte Stoltenberg. „Dies ist Teil des Rechts auf Selbstverteidigung.“

Der tschechische Außenminister Jan Lipavsky unterstützte Stoltenbergs Forderung: „Die Ukraine wurde angegriffen und hat das Recht, sich zu verteidigen. Es ergibt nur Sinn, diese Angriffe zu stoppen, bevor sie auf ukrainischem Gebiet stattfinden“, sagte er.

Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock kritisierte unterdessen die Debatte. „Aus meiner Sicht ist es wirklich nicht die richtige Diskussion, dass man jedes Detail, wie die Ukraine sich verteidigt, in der Öffentlichkeit ausbreitet“, sagte Baerbock in Prag. Es gehe „überhaupt nicht“ darum, ob deutsche oder andere westliche Waffen gegen russisches Gebiet eingesetzt würden. „Es geht darum, die völkerrechtswidrigen Angriffe Russlands auf die Ukraine so zu unterbinden, dass Menschen in der Ukraine nicht sterben müssen.“ Das Völkerrecht sei von Anfang an klar gewesen: „Es macht deutlich, dass man Angriffe abwehren kann“, sagte Baerbock weiter. „Jedes Land hat die Pflicht, seine Bevölkerung zu schützen.“

Ukraine soll gegen russische Streitkräfte vorgehen

Die US-Regierung hatte am Abend zuvor bestätigt, dass sie der Ukraine die Erlaubnis erteilt hat, amerikanische Waffen in begrenztem Umfang gegen Ziele auf russischem Gebiet einzusetzen. Dies gelte aber ausschließlich für Gegenschläge zur Verteidigung der ostukrainischen Großstadt Charkiw, schränkte ein US-Regierungsvertreter ein. Das ukrainische Militär solle in die Lage versetzt werden, gegen russische Streitkräfte vorzugehen, „die sie angreifen oder sich vorbereiten, sie anzugreifen“. Davon abgesehen bleibe der Einsatz von US-Waffen auf Ziele in Russland aber verboten.

Auf die Frage, ob er die US-Entscheidung für weitreichend genug hält, äußerte Stoltenberg sich nicht eindeutig. Zum Auftakt des NATO-Treffens am Donnerstag hatte Stoltenberg mit deutlichen Worten mehr Einsatz der Alliierten zur Unterstützung der Ukraine gefordert. „Die Wahrheit ist, dass das, was wir bisher getan haben, nicht genug ist“, sagte er.

Beim kommenden NATO-Gipfel im Juli in Washington soll unter anderem beschlossen werden, Aufgaben zur Unterstützung der Ukraine, die bisher von den USA übernommenen wurden, auf das Bündnis zu übertragen. Hintergrund dabei ist auch das Szenario einer möglichen Rückkehr von Donald Trump ins US-Präsidentenamt.

Äußerungen des Republikaners hatten in der Vergangenheit Zweifel daran geweckt, ob die USA die Ukraine unter dessen Führung weiter so wie bisher im Abwehrkrieg gegen Russland unterstützen würden. Als schwieriges Thema gilt eineinhalb Monate vor dem Gipfel insbesondere die Frage, ob und wenn ja, wie der Ukraine neue Unterstützungszusagen gemacht werden könnten. NATO-Generalsekretär Stoltenberg hatte vor rund zwei Monaten vorgeschlagen, dem Land für die kommenden fünf Jahre über die NATO Militärhilfen im Wert von 100 Milliarden Euro zu versprechen. Große Unterstützung hat der Norweger für den Vorstoß bisher aber nicht bekommen.