Am Anfang stand ein Gemetzel. Am 7. Oktober führte die islamistische Terrorgruppe Hamas vom Gazastreifen aus einen gezielten Angriff gegen Israel und seine Bewohner. Am Ende des Tages lag die Zahl der Ermordeten bei über 1000 Israelis, darunter 36 Kinder – weitere 245 wurden als Geiseln zurück in den Gazastreifen verschleppt.

Auf den Schock folgte eine Welle der Solidarität. Nie seit dem Holocaust gab es einen tödlicheren Angriff auf Jüdinnen und Juden. Entsprechend entschlossen und mit Härte reagierte das verwundete Land. Seit Beginn dieses Kriegs sollen 34.000 Menschen im abgeriegelten Gazastreifen getötet worden sein. Diese Zahlen nennt das dortige, von der Hamas kontrollierte Gesundheitsministerium. Zweifel sind also angebracht, doch verlässlichere Zahlen gibt es nicht. Hinzu kommt eine humanitäre Katastrophe für die palästinensische Zivilbevölkerung: Es fehlt an Wasser, Nahrung, Medizin, festen Unterkünften, Bildung, also an fast allem.

Verdrehte Geschichte

Das alles hat die Stimmung kippen lassen. Aus der Solidarität entwickelte sich eine erbitterte Konfrontation. Für viele seiner schärfsten Kritiker ist Israel ein imperialistischer Apartheid-Staat, das angegriffene Opfer ist dabei, zum Täter zu werden. An etlichen US-Elite-Universitäten tobt ein offener Kampf, der dabei ist, auch nach Europa herüberzuschwappen. Über 2000 Demonstranten wurden bisher an mehr als 40 US-Unis verhaftet – eine blamable Niederlage für diese Hochburgen aufgeklärten Denkens. Auch an der hoch angesehenen Science Po in Paris schritt die Exekutive gegen pro-palästinensische Demonstranten ein.

Die Treiber dieser Proteste sind – ausgerechnet – die Schrittmacher unserer linksliberalen und ach so achtsamen Postmoderne: Studenten, Künstler und Intellektuelle. Ihnen geht es darum, auf der richtigen Seite zu stehen – auf jener der Opfer, egal ob in der Vergangenheit oder der Gegenwart. Aus dieser Rolle ergibt sich alles Weitere: der Anspruch auf Gehör, auf Wiedergutmachung, auf Deutungshoheit. Nach dieser Lesart werden aus den Palästinensern im Hier und Heute die verfolgten Juden des Holocaust. Und Israel und die Juden rücken gefährlich nahe an die Nazis.

Das ist natürlich verrückt, wenn man die Fakten der Gegenwart mit jenen der 1930er und frühen 1940er vergleicht, aber nicht, wenn es allein um den Status des Opfers, einer wie auch immer unterdrückten ethnischen, sexuellen oder sonstiger Minderheit geht. Jüdische Studenten und Einrichtungen sind Ziel von mitunter sogar körperlichen Attacken.

Dieses Denken machen sich nun auch radikale Muslime zunutze und finden in westlichen Bildungseliten lautstarke Unterstützer. Geschockt reagieren viele erst, wenn, wie kürzlich in Hamburg passiert, radikale Islamisten ein Kalifat fordern. Besonders bemerkenswert: das Engagement vieler Queer-, Schwulen- und Transaktivisten, deren Lebensentwürfe unter islamistischen Regimen eher wenig Zukunft hätten. Muslime bilden, sei es als Folge kolonialer Vergangenheit und/oder liberaler Einwanderungsgesetze, längst in vielen Staaten politisch relevante Minderheiten.

Songcontest im Sog des Nahostkriegs

Und mehr wird noch kommen. Am Dienstag startet der Songcontest im schwedischen Malmö. Man muss kein Prophet sein, um vorherzusagen, dass dieses Großereignis für Frieden, Spaß und Achtsamkeit als Plattform benutzt werden wird. Bereits im Vorfeld haben 1000 schwedische Kunstschaffende wegen des Gazakriegs gegen die Teilnahme Israels protestiert, schon im Vorfeld kam es wegen dieser Teilnahme zu zahlreichen Absagen. Nun wurde bekannt, dass palästinensische Fahnen untersagt sein werden. Das wird für manche fast wie eine Einladung klingen.

Das alles hat auch Folgen für die große internationale Politik. Am Freitag rief die Türkei bis zu einer endgültigen Waffenruhe einen Handelsstopp mit Israel aus. Ankara war einmal ein stiller Verbündeter Israels in der islamischen Welt. US-Präsident Joe Biden muss fürchten, dass seine ohnehin gefährdeten Chancen, im November gegen Donald Trump zu gewinnen, weiter sinken. Gerade die jüngeren Aktivisten seiner demokratischen Partei stehen oft mit in der ersten Reihe der Israel-Kritiker. Dann ist da die Gefahr eines echten Kriegs zwischen Israel und seinem Erzfeind, dem Iran. Natürlich ist auch Österreich keine Insel der Seligen. Die Zahl antisemitischer Übergriffe steigt seit dem 7. Oktober – Schmierereien und Pöbeleien gegen Juden inklusive.

Der Ausgang ist offen. Kein Staat, der sich zu wehren vermag, würde ein Gemetzel an seiner Bevölkerung einfach hinnehmen. Das gilt gerade auch für Israel mit seiner Geschichte als sicherer Zufluchtsort für Juden nach dem Holocaust. Gleichzeitig findet auch dieser Krieg, wie alle Konflikte, nicht im luftleeren Raum statt. Die Palästinenser mögen sich beim Kampf um einen eigenen Staat selbst am meisten im Weg stehen – ein Anrecht auf einen solchen haben sie dennoch. Nur nicht mit den Mitteln von Terrorismus und Gewalt. Ebenso gilt das humanitäre Völkerrecht für alle Staaten zu jeder Zeit – und also auch für eine um ihr politisches Überleben kämpfende Regierung Israels.

Gewiss ist: Das ist kein Krieg in Nahost, dieser Konflikt wird auch im Westen ausgetragen.