Nach der Verabschiedung eines neuen Gesetzes, das der britischen Regierung die Deportation von Asylsuchenden aus aller Welt ins ostafrikanische Ruanda erlauben soll, hofft das Innenministerium in London bereits in den nächsten Tagen Vorbereitungen für eine Massen-Abschiebung „illegaler Migranten“ treffen zu können. Hunderte von Menschen, die auf unerlaubte Weise nach Großbritannien gekommen sind, sollen in Kürze über ihre bevorstehende Abschiebung informiert werden.
Erste Flüge wohl nicht vor Juli
Die ersten Deportations-Flüge von England nach Ruanda werden voraussichtlich aber nicht vor Juli stattfinden. Das musste Premierminister Rishi Sunak diese Woche einräumen, nachdem er bisher versichert hatte, er werde unerwünschte Flüchtlinge „bereits in diesem Frühjahr“ nach Afrika befördern. Allein das parlamentarische Ringen um das neue Gesetz, das Ruanda zu einem „sicheren Land“ erklärt, zog sich mehrere Monate hin. Ungewiss ist noch, ob rechtliche Schritte gegen einzelne Abschiebungen oder ein Eingreifen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte den Prozess weiter verzögern oder gar verhindern werden. Auch ist unbekannt, auf welche Fluggesellschaften die Londoner Regierung für die geplanten Flüge zurückgreifen will – oder ob die Royal Air Force, die britische Luftwaffe, eingesetzt werden muss.
Kommentar von Thomas Golser
Das grüne Licht des Parlaments am Montag kurz vor Mitternacht feiert Regierungschef Sunak dennoch als politischen Triumph. „Diese Flüge finden statt, komme, was da wolle“, sagte Sunak. Alles sei sorgsam geplant. „In 10 bis 12 Wochen“ werde man die ersten irregulär Eingereisten, ungeachtet ihrer Herkunft, nach Ruanda schaffen können. Danach seien, den Sommer über, Deportationen in „regelmäßigem Takt“ vorgesehen. Für Sunak ist das „Ruanda-Projekt“ zu einem zentralen Programm seiner schwer ins Trudeln geratenen Partei und Regierung gewordenen. Der Premier hat der Nation versprochen, „die kleinen Boote zu stoppen“, auf denen jedes Jahr Zehntausende von Flüchtlingen und Migranten über den Ärmelkanal setzen, um in Großbritannien Asyl zu beantragen.
Um die Betreffenden von der Überfahrt „abzuschrecken“, hatte die britische Regierung zunächst alle auf diese Weise angelandeten Personen zu „illegalen Migranten“ erklärt und sodann mit der Regierung Ruandas vereinbart, dass die von London zur Abschiebung Bestimmten, gleich aus welchen Ländern, in Ruanda Asylanträge stellen könnten. Mehrere hundert Millionen Pfund wurden und werden für die Umsetzung dieses Plans an Ruanda gezahlt. Wegen eines Urteils des Obersten Gerichtshofs Großbritanniens vom vorigen November, das die Deportationen als „ungesetzlich“ verwarf, weil Ruanda für viele Flüchtlinge „kein sicheres Land“ sei, brachte Sunak im Parlament sein „Gesetz zur Sicherheit Ruandas“ ein, das schlicht das Gegenteil behauptet. Mit diesem Gesetz wird auch das Einspruchsrecht der auf die Abschiebungslisten gesetzten radikal eingeschränkt.
Mehrere Monate lang widersetzte sich das Oberhaus, die zur Revision befugte zweite Kammer Westminsters, vehement der Gesetzesvorlage. Erst in der Nacht auf Dienstag gaben die Mitglieder des House of Lords ihren Widerstand auf. Damit war der Weg frei, für die Unterzeichnung des Gesetzes durch König Charles III. Flüchtlings-Organisationen und Menschenrechts-Anwälte arbeiten derweil fieberhaft an individuellen Anträgen, mit denen Abschiebungen verhindert werden sollen. Solche Anträge sind weiter zugelassen, wiewohl innerhalb äußerst eng begrenzter Fristen. Um mit den erwarteten Einsprüchen fertig zu werden, hat die Regierung 25 Gerichtssäle und 150 Richter zusätzlich bereitgestellt.
Dass das „Ruanda-Projekt“ sein Ziel erreicht und letztlich Flüchtlinge von der Überfahrt nach England abschreckt, wird allerdings weithin bezweifelt. Auch gestern setzten wieder Dutzende „illegaler Migranten“ über den Kanal. Auf der französischen Seite des Kanals kamen, auf einem mit hundert Personen total überladenen Boot, fünf Menschen ums Leben. So etwas könne man „nicht länger akzeptieren“, erklärte Innenminister James Cleverly dazu. Beweise für einen Abschreckungseffekt der Drohung mit Ruanda gebe es aber natürlich keine, gestand jüngst bereits Matthew Rycroft, der vor zwei Jahren mit der Organisation der Deportationen beauftragte leitende Staatsbeamte im Innenministerium. Und Lord Anderson, ein prominenter Jurist und parteiloser Oberhaus-Parlamentarier, erklärte diese Woche, es bleibe „abzuwarten“, ob der Plan „echten Nutzen“ bringe.
„Seine Kosten sind nicht nur in Geld zu messen“, warnte Anderson, „sondern in preisgegebenen Prinzipien – Verachtung für unsere internationalen Verpflichtungen, Vermeidung gesetzlicher Schutzmaßnahmen für die Schwächsten der Gesellschaft, Abschaffung richterlicher Kontrolle über die zentrale Frage der Sicherheit Ruandas.“ Zornig protestierten am Dienstag auch Flüchtlings- und Menschenrechts-Ausschüsse des Europarats und der Vereinten Nationen gegen die Ruanda-Politik Londons. Die neue Gesetzgebung, fand UNO-Flüchtlings-Kommissar Filippo Grandi, markiere „einen weiteren Schritt des Vereinigten Königreichs weg von seiner langen Tradition der Hilfsbereitschaft für alle, die Zuflucht suchen“, sowie „einen Bruch der Flüchtlings-Konvention“.
Labour in Umfragen weit voran
„Statt feindseliger Gesetze, die nur auf Schlagzeilen zielen“, meinte auch der Sprecher des britischen Flüchtlingsrats, Enver Salomon, „brauchen wir sichere Routen für alle, die vor Konflikten und Verfolgung fliehen, mehr Optionen für Familien-Zusammenführungen, für Flüchtlings-Visen und für Zusammenarbeit mit unseren europäischen Nachbarn.“ Die oppositionelle Labour Party bekräftigte erneut ihre Absicht, die Ruanda-Deportationen unmittelbar wieder einzustellen, sollte sie die Unterhauswahlen gewinnen, die Sunak noch dieses Jahr ausschreiben muss. Gegenwärtig liegt Labour in allen Umfragen um rund 20 Prozentpunkte vor den Konservativen.
Für Tory-Premier Sunak ist Ruanda unter diesen Umständen zum inzwischen wichtigsten Punkt einer Politik geworden, die seiner Partei noch zu größerer Popularität verhelfen und sie vor einer Wahlkatastrophe retten soll – so es ihm tatsächlich gelingt, die „kleinen Boote“ in nennenswertem Umfang zu stoppen in kurzer Zeit.