Die Luftschutzsirenen heulen in Charkiw derzeit fast jeden Tag, mitunter sind es Dutzende Drohnen und Raketen, die Kurs auf die zweitgrößte Stadt der Ukraine nehmen. Viele davon können die Flugabwehrsysteme abschießen, doch immer wieder kommen welche durch. Sie schlagen in den Kraftwerksanlagen ein, aber auch im Stadtzentrum. Oft können die Rettungskräfte nur noch Tote aus Wohnhäusern, Apotheken und Geschäften bergen.
Die Angriffswelle, die Charkiw seit Dezember erlebt, ist die größte seit dem russischen Einmarsch in die Ukraine. Und seit Russland im März damit begonnen hat, neben Drohnen und Raketen auch Gleitbomben einzusetzen, wird sie von Tag zu Tag verheerender. Bei deren Herstellung werden ungelenkte Fliegerbomben, von denen es noch viele aus Sowjetzeiten gibt, mit Tragflächen und einem einfachen Navigationssystem aufgerüstet. Die Reichweite steigt dadurch auf mehrere Dutzende Kilometer und ermöglicht so einen Abwurf weit entfernt von den ukrainischen Flugabwehrstellungen, die der neuen Bedrohung machtlos gegenüberstehen.
Was der Kreml mit der Intensivierung der Angriffe bezweckt, ist nicht vollends klar. Ukrainische Sicherheitskreise vermuten, dass Russland Charkiw in eine „graue Zone“ verwandeln will, die für die 1,3 Millionen Einwohner unbewohnbar wird. Nicht ausgeschlossen ist aber auch, dass das Bombardement Teil der Vorbereitungen für eine große Sommeroffensive ist. Russland hatte bereits vor zwei Jahren versucht, die Stadt zu erobern, war damit aber gescheitert.
„Die Angriffe am Tag führen zu mehr Toten“
Charkiw ist aber nicht die einzige ukrainische Stadt, die derzeit unter vermehrten russischen Angriffen leidet. So lag neben Saporischschja vor allem auch die Hafenstadt Odessa zuletzt immer wieder unter Dauerbeschuss. „Die Qualität der Angriffe hat sich verändert. Es gibt jetzt auch tagsüber Angriffe, was zu mehr Toten führt“, sagt Wolfgang Wedan, der als Nothilfe-Koordinator der NGO „Jugend Eine Welt“ vor kurzem vor Ort war.
Besonders belastend ist die Situation für Kinder. Die Teams zur Traumabewältigung, die von der NGO unterstützt werden, sind voll ausgelastet. Wedan berichtet etwa von einer Familie, die nach Odessa geflüchtet ist. „Der größte Wunsch der Kinder war eine trockene Wohnung, da sie zuvor wochenlang in einem feuchten Keller Unterschlupf gefunden hatten.“