Wie sehr sich die Sicherheitslage in Europa verändert hat, machte der Historiker und Harvard-Professor Serhii Plokhy am Donnerstag mit einem einfachen Beispiel deutlich: „Das deutsche Wort ‚Zeitenwende‘ hat sich so sehr im internationalen Sprachgebrauch etabliert, dass es gar nicht mehr übersetzt werden muss. Es hat den Begriff ,Perestrojka‘, der in der Ära Gorbatschow jedem geläufig war, nun endgültig abgelöst.“
Plokhy, der am Donnerstag bei einer vom Ludwig-Boltzmann-Institut für Kriegsfolgenforschung und der Uni Graz veranstalteten Tagung die Situation im dritten Kriegsjahr analysierte, sieht die Ukraine und Europa an einem Wendepunkt in diesem Krieg. 2024 könne angesichts der militärischen Probleme der Ukraine zum Schicksalsjahr werden. „Wir befinden uns in einer neuen Periode der europäischen Geschichte und der Weltgeschichte, mit dem umfassendsten Krieg in Europa seit 1945“, sagte Plokhy. Daher werde der Ausgang „die europäische und internationale Ordnung, die Zukunft unserer Kinder und die nächsten 20 Jahre entscheiden“, ist Plokhy überzeugt.
Der Ausgang des Krieges werde letztlich davon abhängen, ob und wann sich die Blockade der Ukraine-Hilfe im US-Kongress lösen lasse, ob die nächste Mobilisierung von Soldaten in der Ukraine gelinge und die Ukrainer trotz des Abnutzungskriegs ihre Antriebskraft, sich zu wehren, aufrechterhalten können. „Wenn wir jetzt Entscheidungen falsch oder zu spät treffen, kann dies die Zukunft für eine lange Zeit entscheiden“, so Plokhy. Die Ukraine sei für Putin so wichtig, weil ohne die einstige zweitgrößte Sowjetrepublik die Idee eines Imperiums sinnlos und in Frage gestellt sei – „wegen ihres ökonomischen Potenzials, aber auch ihres slawischen, christlichen Charakters in einem Reich mit mehreren nichtslawischen, muslimischen Republiken“.
Trotz der aktuellen Unwägbarkeiten und großen Schwierigkeiten ist der Historiker langfristig dennoch eher zuversichtlich. Plokhy sieht diesen Krieg als Baustein in einer langen Geschichte von Kriegen, die den Zerfall großer Imperien begleiten – von den Ottomanen bis in die Gegenwart. Die Zeit arbeite gegen die Imperien und für eine Ordnung souveräner Nationalstaaten: „Ich habe keinen Zweifel, dass das langfristig auch für Russland gilt“, so Plokhy. Das sei allerdings ein langsamer Prozess. „Die Frage ist, wie hoch der Blutzoll dafür ist. Je länger es dauert, umso mehr Menschen müssen mit ihrem Leben dafür bezahlen.“
Die Behauptung, Russen und Ukrainer seien Brüder und die Ukrainer nur ein von Nazis gekidnapptes Volk, das eigentlich die Einheit mit Russland wolle, die Putin propagiere und mit der er seinen Krieg rechtfertige, sei bereits in den ersten Tagen des russischen Krieges auf die Ukraine zerstört gewesen. Dazu würden auch die vielen Toten und Verletzten auf russischer Seite beitragen. Nichts habe die ukrainische Identität mehr gestärkt als deren Widerstand gegen die Aggression Putins.
Wie sich aber nach einem Zerfall des Imperiums auch ein demokratisches Bewusstsein in Russland entwickeln werde, bleibe offen. „Wenn man nach Deutschland oder Japan nach dem Zweiten Weltkrieg blickt, kamen diese Veränderungen erst durch die Besatzung. Ich kenne aber niemanden, der das für Russland auch nur in Erwägung ziehen würde“, sagt Plokhy. Das bedeute, dass keine rasche Transformation zu erwarten sei. „Ich gehöre der Generation an, die die Perestrojka-Ära und die Jelzin-Jahre mit hohen Erwartungen an eine Demokratisierung Russlands durchlebt hat – und ich weiß inzwischen, dass wir naiv waren“, so Plokhy. Nur unter der Voraussetzung, dass Russland den jetzigen Krieg verliere, werde es sich langfristig – und langsam – in Richtung Demokratie entwickeln.
Auch was die Unterstützung der USA anbelangt, die nach einem Wahlsieg Donald Trumps in Frage gestellt sein könnte, zeigt sich Plokhy längerfristig optimistisch: „Das erinnert mich an eine Aussage von Winston Churchill“, sagt der Historiker: „Man könne sich auf die USA verlassen, dass sie das Richtige tun – aber erst, nachdem sie alles andere versucht haben. Das kann man heutzutage übrigens auf den ganzen Westen ausdehnen.“ Das westliche ökonomische Model sei ohne Zweifel kraftvoll und produktiv. Doch: „Es kann sein, dass die Bevölkerung im Westen erst wieder lernen muss, dass Werte wie Sicherheit und Wohlstand nicht selbstverständlich und gratis zu haben sind“.