Die Zusammenkunft liest sich wie eine Geschichte des schwedischen Autors Jonas Jonasson („Der Hundertjährige, der aus dem Fenster stieg und verschwand“). Eine Gruppe von Schweizer Klimaseniorinnen, sechs portugiesische Jugendliche und ein französischer Ex-Bürgermeister treffen sich vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, um ihre Staaten wegen unzureichendem Klimaschutzmaßnahmen zu klagen. – Und gewinnen, zumindest teilweise. In Straßburg geschah heute genau das. Das Europäische Menschenrechtsgericht (EGMR) hat in einem wegweisenden Urteil die Schweiz wegen mangelnden Klimaschutzes verurteilt. Die Richterinnen und Richter gaben einer Gruppe Schweizer Seniorinnen recht, die ihrer Regierung vorwerfen, nicht genug gegen den Klimawandel zu tun.

Der 2016 gegründete Verein „Klimaseniorinnen“ hatte den Staat wegen dessen Klimapolitik verklagt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) musste sich deshalb mit der Frage befassen, ob ein Staat den Ausstoß von Treibhausgasen reduzieren muss, um die Menschenrechte der eigenen Bevölkerung zu schützen.

Andere Klagen abgelehnt

Das Gericht hat der Klage nun stattgegeben. Und das, obwohl die Menschenrechtskonvention an sich kein Recht auf saubere Umwelt beinhaltet. Doch gibt es gewisse Rechte auf Umweltschutz in anderen Artikeln. Auch im Fall der Schweizer Seniorinnen kam einer dieser Artikel zum Tragen. Das Land verletze Artikel 8 („Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens“) der europäischen Menschenrechtskonvention, hielten die Richter mit 16 zu einer Stimme fest. Die Schweizer Behörden hätten es versäumt, rechtzeitig und angemessen auf den Klimawandel zu reagieren, heißt es in einer Aussendung des EGMR. Zudem hätten die Klägerinnen nicht ausreichend die Möglichkeit gehabt, vor nationalen Gerichten zu klagen.

Anders erging es den übrigen Kläger-Parteien, deren Fälle der Gerichtshof ebenfalls behandelt hatte. Die Klimaklage eines ehemaligen Bürgermeisters eines französischen Küstenortes und nunmehrigen EU-Abgeordneten der Grünen wies das Gericht in Straßburg am Dienstag hingegen zurück. Er hatte den französischen Staat geklagt, weil dieser durch eine unzureichende Klimapolitik sein „Recht auf Leben“ und „Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens“ verletzt habe. Da der Kläger aber nicht mehr in der besagten Stadt und aktuell auch nicht in Frankreich lebe, könne er nicht den Opferstatus (rechtliche Bedingung für Individualklagen vor dem EGMR) erlangen. Auch die Klage von sechs portugiesischen Jugendlichen blitzte ab. Der Gerichtshof argumentierte, dass diese die juristischen Wege in ihrem Heimatland nicht genutzt hatten – die Teenager waren, entsetzt von den verheerenden Sommer-Waldbränden der vergangenen Jahre, sofort vor den EGMR gezogen.

Paul Gragl, Professor für Europarecht an der Universität Graz.
Paul Gragl, Professor für Europarecht an der Universität Graz. © Foto: Uni Graz/Radlinger

„Wegweisendes Urteil“

Das positive Urteil im Falle der Klimaseniorinnen könnten nach Ansicht von Experten im Vorfeld der Entscheidungen ein Wendepunkt im Kampf gegen den Klimawandel sein. Denn durch die Urteile könnten Regierungen zu einer ehrgeizigeren Klimapolitik gezwungen werden.

„Das Urteil ist wegweisend“, betont auch Paul Gragl, Professor für Europarecht an der Universität Graz. „Das Gericht hält fest: ‚Den Staat trifft eine positive Verpflichtung, etwas gegen den Klimawandel zu tun.‘ Das gab es so noch nie. Das ist ein durchsetzbares Recht“, erklärt Gragl. So wäre - auch wenn politisch schwierig - ein Zusatzartikel für den Klimaschutz möglich. Auch hätte das Urteil nicht zuletzt auf Österreich direkte Auswirkungen. „In Österreich steht die Menschenrechtskonvention im Verfassungsrang. Das heißt, in Zukunft könnte man Verletzungen vor dem Verfassungsgerichtshof einklagen“, erklärt Gragl.

„Ich sehe das auch nicht skeptisch, dass etwas in die Menschenrechtskonvention hineingelesen wird, was dort nicht ist. Sie ist ein dynamisches Instrument und muss natürlich immer vor dem Hintergrund der aktuellen Probleme gelesen werden. Es bringt uns nichts, ein Dokument im Lichte von 1950 auszulegen“, betont Gragl.

Auch die Umweltschutzorganisation Greenpeace unterstützte die Beschwerde. Georg Klingler, Klimaexperte von Greenpeace Schweiz, hatte im Vorfeld gesagt: „Das Urteil des EGMR wird eine Signalwirkung weit über die Schweiz hinaus haben“. Jasmin Duregger, Klima- und Energieexpertin bei Greenpeace in Österreich: “Heute ist ein historischer Tag für den Klimaschutz. Die Klimaseniorinnen haben vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gewonnen. Das Gericht hat die Bedrohung der Menschenrechte durch die Klimakrise erkannt und sagt, dass die Schweizer Gerichte sich nicht genug damit beschäftigt haben. Das ist ein wichtiger Schritt im Kampf für mehr Klimaschutz in Europa.” 

In ihrer Beschwerde argumentierten die Rentnerinnen, dass vor allem die ältere Bevölkerung unter dem Temperaturanstieg durch den Ausstoß von Treibhausgasen leide. Weil die Schweiz zu wenig für den Klimaschutz tue, gefährde sie die Rechte der älteren Bevölkerung. Deshalb haben sie die Schweiz vor dem EGMR verklagt.

Einen ähnlichen Fall gab es im vergangenen Jahr in Österreich. Damals hatten zwölf Kinder und Jugendliche die Republik vor dem Verfassungsgerichtshof geklagt, weil sie ihre Zukunft durch fehlende oder unzureichende Klimaschutzmaßnahmen der Bundesregierung gefährdet sahen. Der Verfassungsgerichtshof hatte die Klage jedoch abgewiesen.