Ein russischer Erfolg in der Ukraine würde für die Sicherheitslage in Europa eine wesentliche Verschlechterung bedeuten. Trotzdem halte er es im Augenblick für sehr unwahrscheinlich, dass Russland ein weiteres Land angreifen werde, sagt der Vorsitzende des EU-Militärausschusses General Robert Brieger im APA-Interview. "Russland hat große Verluste hinnehmen müssen", so der ehemalige Generalstabschef des Bundesheeres.
"Es wird Jahre brauchen, die russische Armee wieder so zu ergänzen, auszubilden und auszurüsten, dass sie voll operationsfähig ist." Es gebe Analysten, die von drei bis fünf Jahren ausgingen, bis ein russischer Angriff auf ein EU-Land Realität werden könnte. Dies sei aber schwer abzuschätzen, so Brieger.
Situation bleibt schwierig
Für die Ukraine werde die Situation in den kommenden Monaten schwierig bleiben. "Es wird insgesamt darauf ankommen, in den nächsten Monaten der Ukraine jene Waffen und Munition zur Verfügung zu stellen, die sie befähigen, einen russischen Erfolg am Schlachtfeld zu verhindern", meint der General mit Blick auf die laufenden Diskussionen rund um europäische Munitionslieferungen.
Neben Lieferungen aus bestehenden Lagern und der gemeinsamen Beschaffung sei als weiterer Schritt auch eine Stärkung der Produktionskapazitäten in Europa notwendig. Heuer werde die EU der Ukraine etwa eine Million Granaten zur Verfügung stellen können, ab 2025 sollen dann zwei Millionen jährlich möglich sein. "Die russischen Produktionskapazitäten sind derzeit wahrscheinlich höher", merkt Brieger an. "Allerdings weise ich darauf hin, dass der Westen qualitativ über bessere Kampfmittel und Munition verfügt, sodass es letztlich darauf ankommen wird, diese kritische Phase, die wir in einem Abnutzungskrieg derzeit durchlaufen, zu überbrücken."
Europäische Bodentruppen
Eine Entsendung europäischer Bodentruppen in die Ukraine, wie sie jüngst vom französischen Präsidenten Emmanuel Macron ins Spiel gebracht wurde, sieht Brieger skeptisch. Zudem habe die EU bereits vierzigtausend ukrainische Soldaten ausgebildet, sagte er. Es gebe aktuell in der EU keine Planungen zur Entsendung von Bodentruppen.
Der Krieg in der Ukraine hat auch eine allgemeine Debatte zu Europas Wehrfähigkeit ausgelöst. "Für den Augenblick und für die nahe Zukunft gilt nach wie vor, dass eine Verteidigung Europas ohne die USA derzeit schwer vorstellbar ist" - auch wenn Europa seit 2022 bereits wirksame Schritte in diese Richtung unternommen habe, so Briegers Einschätzung. "Ein potenzieller Abzug amerikanischer Ressourcen (...) muss im besten Fall dazu führen, dass Europa sich stärker sicherheits- und verteidigungspolitisch aufstellt und mehr Verantwortung selbst übernimmt."
Grundsätzlich gebe es hierfür zwei Ansätze: Einer, in dem der europäische Pfeiler der NATO verstärkt werde oder einer im Rahmen der gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik. "Aber es bleibt unterm Strich, dass Europa für die eigene Verteidigung in jedem Fall mehr investieren muss."
Auch Möglichkeiten für Österreich
Auch für neutrale Staaten wie Österreich gebe es in beiden Fällen Möglichkeiten, sich neutralitätskonform zu beteiligen. Das gelte auch im Rahmen einer in der Zukunft möglichen europäischen Armee. Es gebe bereits jetzt "zahlreiche Projekte, die auch neutralen Staaten entweder im Rahmen der Europäischen Union oder der NATO Friedenspartnerschaft eine Teilnahme eröffnen", betont General Brieger. Es sei aus seiner Sicht "empfehlenswert", solche Möglichkeiten vermehrt zu nutzen.
"Ein künftiger Beitrag für eine europäische Armee kann sich meines Erachtens nicht beschränken auf bloß symbolische Gesten, sondern müsste tatsächlich Truppen umfassen", so Brieger. Österreich habe hier "Möglichkeiten und Expertise, wertvolle Beiträge zu leisten". Eine europäische Armee sei derzeit aber noch Zukunftsmusik, die vom politischen Willen und dem militärischen Integrationsprozess der Europäischen Union selbst abhänge.
Operation Aspides
Ein Beispiel für eine existierende militärische Mission der EU, an der auch Österreich sich beteiligt, ist die "Operation Aspides" im Roten Meer. Hier sollen Handelsschiffe vor Angriffen der Houthi-Rebellen im Jemen geschützt werden. Die Mission ist defensiv ausgerichtet, was bedeute, dass seitens der Operation "keine Luftschläge oder kein Artilleriebeschuss auf Stellungen der Houthis" ausgeführt würden. In erster Linie würden Handelsschiffe vor Flugkörpern und Drohnen geschützt.
Brieger rechnet mit einem längeren Einsatz im Roten Meer. Aktuell sei die Mission auf ein Jahre angelegt, sie hänge aber auch vom Willen der Mitgliedstaaten ab, "entsprechend Leistungen zu erbringen". Allein militärisch könne das Problem ohnehin nicht gelöst werden. "Es gibt ökonomische Maßnahmen, es gibt finanzielle humanitäre Unterstützung, es gibt den diplomatischen Support. Das Zusammenwirken dieser komplementären Möglichkeiten sollte sicherheitspolitisch zu einer optimalen Wirkung gebracht werden".