Als die Nato vor fünf Jahren ihr letztes rundes Jubiläum beging, war die Stimmung gedämpft gewesen. Donalds Trumps verbale Angriffe auf die Bündnispartner, die der damalige US-Präsident immer wieder mit unverhohlenen Austrittsdrohungen garnierte, hatten überall tiefe Wunden geschlagen. Die Debatten über Sinn und Zukunft des westlichen Verteidigungsbündnisses drehten sich 70 Jahre nach seiner Gründung so weit im Kreis, dass der französische Staatschef Emmanuel Macron der Nato den Hirntod attestierte.
Zum unbeschwerten Feiern ist wohl auch niemandem zumute, wenn in Brüssel heute die Außenminister der 32 Nato-Staaten anlässlich des 75. Jahrestag der Allianz zusammenkommen, zu massiv sind die geopolitischen Krisen, mit denen sich die Welt derzeit konfrontiert sieht. Dennoch steht die Nato heute ganz anders da als noch vor fünf Jahren. Der russische Überfall auf die Ukraine hat im Westen nicht nur ein grundlegendes Umdenken ausgelöst, sondern eine lange Zeit nicht für möglich gehaltene Geschlossenheit hervorgebracht. Die Regierungen der Nato-Staaten schrauben ihre Verteidigungsbudgets nach oben, schicken große Truppenkontingente zur Verstärkung der Ostflanke ins Baltikum und überarbeiten gemeinsam die Logistikstrukturen für die Verlegung großer Verbände.
Kommentar
Gemeinsame Verteidigung statt Neutralität
Wie sehr sich die Zeiten geändert haben, lässt sich aber nicht nur an der neu gefundenen Einigkeit ablesen. Mit Schweden und Finnland sind mittlerweile zwei Staaten beigetreten, die teils jahrhundertelang neutral waren, nun aber angesichts der russischen Aggression auf die Sicherheit einer kollektiven Verteidigung setzen. Andere Länder wie etwa der Kosovo drängen seit dem Überfall auf die Ukraine nochmals stärker auf eine Aufnahme. „Wir sehen derzeit zweifellos die Wiederauferstehung der Nato“, sagt Markus Kaim, Nato-Experte bei der deutschen Stiftung für Wissenschaft und Politik (SWP) zur Kleinen Zeitung. „Und die eigene Verteidigung steht dabei ganz klar im Mittelpunkt“.
Die neu gewonnene Attraktivität der Verteidigungsallianz kann allerdings nicht über die zahlreichen Baustellen hinwegtäuschen. So ist vor allem der Ukrainekrieg ein Belastungstest für die eigene Kriegstüchtigkeit und Abschreckungsfähigkeit. Während die osteuropäischen und baltischen Staaten, die in der Nato in den vergangenen zwei Jahren immer mehr an Gewicht gewonnen haben, auf noch höhere Verteidigungsbudgets und umfangreiche Waffenlieferung an die Ukraine drängen, ringen Länder wie Deutschland mit einem jahrelangen Investitionsrückstand im Militärbereich und exzessiv geführten Debatten über allfällige rote Linien.
Nato-Experte Kaim sieht in diesem Zusammenhang auch ein Problem auf die Nato zukommen, das er „Multilateralismus à la carte“ nennt. So würden sich Länder wie Ungarn oder die Türkei gewisse Vorteile aus der Mitgliedschaft in internationalen Organisationen herauspicken, aber sich nicht dem großen Ganzen verpflichtet sehen. „Für die Regierung in Ankara ist es etwa kein Widerspruch, in der Nato zu sein und gleichzeitig Russland sicherheitspolitisch schöne Augen zu machen, in dem man dort Waffen kauft oder westliche Sanktionen gegen Moskau nicht mitträgt“, sagt Kaim. „Und wenn 2027 in Frankreich Marine Le Pen gewählt wird, kommt zu dieser Gruppe wohl noch ein weiteres Land hinzu.“
Trump als Elefant im Raum
Die wohl größte Herausforderung könnte der Nato aber schon lange vor dem Jahr 2027 bevorstehen. Denn wenn im November Donald Trump zum zweiten Mal die US-Präsidentschaftswahl gewinnt, dürfte nicht nur die seit Langem schwelende Debatte über eine gerechte Lastenverteilung zwischen Europa und den USA wieder mit voller Wucht durchbrechen. So hat der Republikaner erst vor Kurzem angedroht, Bündnispartner mit zu geringen Militärausgaben nicht mehr verteidigen zu wollen – das gesamte strategische Prinzip der Nato, laut dem ein Angriff auf ein Mitgliedsland einen Angriff auf alle Mitgliedsländer darstellt, wäre damit Makulatur.
Wie ernst es Trump mit dieser Drohung meint, trauen sich auch Nato-Experten wie Kaim nicht einzuschätzen. Der SWP-Forscher geht allerdings davon aus, dass die Nato zunächst nicht ganz oben auf der Agenda des 77-Jährigen stehen wird. „Zuerst wird wohl einmal die Innenpolitik für Trump Priorität haben“, sagt Kaim.