Bei den schwersten russischen Angriffen auf die ukrainische Energie-Infrastruktur seit Kriegsbeginn sind in der Nacht auf Freitag mindestens zwei Menschen getötet worden. 14 Menschen seien verletzt worden, teilte das Innenministerium in Kiew mit. Drei Menschen würden vermisst. Die ukrainische Luftwaffe teilte mit, sie habe bei den massiven Angriffen in der Nacht 92 von 151 russischen Raketen und Drohnen abgeschossen. Mehr als eine Million Menschen waren ohne Strom.
Die Angriffe sind eine Reaktion auf ukrainische Drohnenangriffe auf die Energieinfrastruktur Russlands, auf die Kiew (nachdem Russland bei den Bodenkämpfen zuletzt die Oberhand gewonnen hatte) vermehrt gesetzt hat. Wegen der Sorge vor dadurch möglicherweise steigender globaler Ölpreise (und möglicher Vergeltungsschläge), forderte Washington die Ukraine nun auf, derartige Angriffe zu unterlassen. Dies wurde aus Washington an hochrangige Beamte und Geheimdienste in der Ukraine herangetragen, berichtet die „Financial Times“.
Das Weiße Haus soll vermehrt Frustration über die ukrainischen Drohnenangriffe geäußert haben. Mit den Angriffen zielte die Ukraine auf Ölraffinerien, Terminals, Depots und Lagereinrichtungen in ganz Westrussland. Die Folge war eine Beeinträchtigung der Ölpreise. Denn trotz der vielen Sanktionen ist Russland immer noch einer der wichtigsten Energieexporteure weltweit.
Steigende Ölpreise
In diesem Jahr sind die Ölpreise in den Vereinigten Staaten rasant in die Höhe gestiegen, nämlich um etwa 15 Prozent, was 85 US-Dollar pro Barrel entspricht. Und das genau zu dem Zeitpunkt, an dem der amtierende US-Präsident Joe Biden mit dem Wahlkampf für die Präsidentschaftswahlen im Herbst startet. Zudem fürchtet das Weiße Haus mögliche Vergeltungsschläge Russlands auf Infrastruktur, die auch für die westliche Energieversorgung von großer Bedeutung sind.
Eine dieser Anlagen ist die CPC-Pipeline, die Öl von Kasachstan über Russland an den Weltmarkt bringt. Unternehmen wie ExxonMobil und Chevron sind auf die Pipeline angewiesen, die 2022 kurzzeitig stillgelegt wurde. Die Anfrage nach Stellungnahmen durch die CIA, die SBU, GUR und Selenskyjs Büro wurden abgelehnt oder ignoriert.
In den letzten Wochen übte die Ukraine verstärkt Luftangriffe aus. Ermöglicht wurde das, weil die Ukraine ihre Drohnenprogramme ausgeweitet hat, nachdem sich der Bodenkrieg zugunsten Moskaus verlagert hatte. Ein Beamter des Militärgeheimdienstes in Kiew erklärt, dass es 2022 mindestens zwölf Angriffe auf große russische Raffinerien gab. Heuer waren es bereits mindestens neun.
Russland bestätigt, im Krieg zu sein
Nach mehr als zwei Jahren Krieg mit der Ukraine hat Russland erstmals offiziell eingeräumt, dass sich das Land im Krieg befindet. „Wir sind im Kriegszustand. Ja, es begann als eine spezielle Militäroperation, aber sobald diese Gruppe gebildet wurde und der kollektive Westen ein Teilnehmer dessen auf der Seite der Ukraine wurde, wurde dies zum Krieg für uns“, sagte Kreml-Sprecher Dmitri Peskow in einem Interview. Weiters äußerte er sich, nachdem der Aggressorstaat in der Nacht den wohl größten konzertierten Angriff auf die Energieinfrastruktur des Nachbarlandes durchgeführt hatte. Obwohl Russland unter anderem wegen akuten Waffenmangels jüngst Fortschritte in den Kämpfen gegen die Ukraine erreichen konnte, ist es weit davon entfernt, diese vier ukrainischen Regionen komplett zu beherrschen.
Eine ehemalige CIA-Analystin, Helima Croft, stellte fest, dass die Ukraine durch die Angriffe bis zu 60 Prozent der Ölexporte gefährden könnte. Die USA äußern ihre Einwände und Sorgen jedoch zu einem Zeitpunkt, der Biden beim Wahlkampf gut in die Karten spielen könnte. Denn auch die Benzinpreise stiegen um fast 15 Prozent. Bob McNally, Präsident des Beratungsunternehmens Rapidan Energy und ehemaliger Energieberater des Weißen Hauses, erklärt Bidens Interesse an der Thematik: „Nichts erschreckt einen amtierenden amerikanischen Präsidenten mehr als ein Anstieg der Spritpreise während eines Wahljahres.“
Russische Einnahmen kürzen
Ukrainische Beamte erklären, dass sie Drohnen mit einer Reichweite von über 1000 Kilometer entwickelt hätten. Erst vergangene Woche startete die Ukraine mit der bis dato größten Drohnenangriffswelle. Dabei waren sieben russische Energieanlagen das Ziel. Der Sinn hinter diesen Angriffen sei, die Treibstoffversorgungen der russischen Truppen zu stören und Einnahmen zur Finanzierung des Kriegs zu dezimieren, sagte ein ukrainischer Beamter, der in die Planung involviert war, zur „Financial Times“.
Kiew dürfte es aber auch um die Symbolik gehen. Man zeigt, dass man in der Lage ist, die russische Luftabwehr zu durchbrechen und Ziele weit im Inneren – auch in der Nähe des Kremls – treffen zu können. Von einigen Beamten werden die Luftangriffe auch als Druckmittel betrachtet, Washington dazu zu bewegen, dem im Kongress vorgelegten Militärhilfepaket in Höhe von 60 Milliarden US-Dollar zuzustimmen.