Ich weiß nicht, ob es oft vorkommt, dass man schon als Junger das Land besucht, in dem man später beruflich tätig sein wird. Mir ist es im Jahr 1967 so ergangen, als unsere Klasse auf dem Rückweg von der Maturareise nach Bosnien-Herzegowina kam. Auch 1982 wusste ich es noch nicht, als ich als junger Kulturattaché an der österreichischen Botschaft in Belgrad tätig war. Aber solange ich lebe, werde mich an die Kroaten erinnern, die mich im selben Jahr am ersten Jahrestag der Marienerscheinung in Medjugorje, im damals noch kommunistischen Jugoslawien, so herzlich aufnahmen.
Das ist die größte Stärke der Bewohner dieses wunderschönen Landes: Die Gastfreundschaft, die Liebenswürdigkeit und die gute Nachbarschaft, der „Komschiluk“, sind beinahe etwas Heiliges. Häufig verwahren die Leute neben den eigenen auch die Wohnungsschlüssel ihrer Nachbarn.
Es sind ungemein begabte Menschen. Bosniens Kupferschmiede, Holzschnitzer und Möbelproduzenten sind weltbekannt. Die Zahl der Fußballer und Basketballer, die im Ausland Karriere gemacht haben, ist Legion. Am bekanntesten ist mit großem Abstand der verstorbene legendäre Trainer Ivica Osim. Mit relativ bescheidenen finanziellen Mitteln schaffte er es in der Champions League mit Sturm Graz zweimal in die zweite Runde. Osim war ein Philosoph und Menschenkenner, der an Sportler, Politiker und Prominente strenge moralische Grundsätze anlegte. Er verkörperte das Idealbild eines Bewohners von Sarajevo: tolerant, weltoffen, multikulturell, gerecht, hilfsbereit und prinzipientreu. Als die jugoslawische Armee seine Heimatstadt Sarajevo angriff, trat er unter Tränen als Trainer der jugoslawischen Fußball-Nationalelf zurück.
Bosnien ist auch der weltweit größte Exporteur von Politikern, darunter der australische Industrieminister Edhem Husić oder Aida Hadžialić, die mit 27 Jahren schwedische Unterrichtsministerin wurde. Nicht zu vergessen die österreichische Ministerin mit den höchsten Vertrauenswerten, Alma Zadić. Dazu kommen zahlreiche bosnischstämmige Abgeordnete in Deutschland und Österreich. Mit der geplanten Aufnahme der Beitrittsverhandlungen mit der Europäischen Union bekommt Bosnien-Herzegowina die Chance, das Land so zu reformieren, dass die Bürger zu Hause bleiben und dort ihre Zukunft aufbauen können.
Für den Beginn der Beitrittsgespräche sind drei Gründe ausschlaggebend. Der eigene, wenn auch bescheidene Beitrag Bosniens, das Wohlwollen, mit dem die EU den Antrag Bosniens behandelte, und die geopolitische Lage. Ohne den Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine würde es wohl länger dauern. So aber wollten die Europäer ihren Einflussbereich abstecken. Ihr gehört zu uns, eure Zukunft liegt in der EU. Die EU wollte nicht, dass sich am Balkan ein schwarzes Loch auftut. Bosnien liegt in Europa, ebenso wie Griechenland.
Es gibt also wohl ein Ja zu Verhandlungen, aber der schwierigere Teil folgt erst. So muss das Land zuerst einige ältere Bedingungen erfüllen, um überhaupt mit den Beitrittsverhandlungen beginnen zu können. Und dann wird es gelten, einen großen Lkw an Vorschriften und EU-Standards zu übernehmen oder zumindest anzugleichen. Bei Spanien dauerte es neun Jahre. Das Land steht also vor einer gewaltigen Herausforderung. Die euphorischen Schlagzeilen werden verschwinden, die harte Arbeit beginnt. Manche Politiker habe das grüne Licht nicht verdient, allen voran jene, die den Staat schwächen oder zerstören wollen.
Auf jeden Fall verdient haben die Annäherung an die EU die „einfachen“ Bürger, die sich Europa und mehr Rechtsstaatlichkeit wünschen. Falls die EU etwas ändern will, dann ist es dieser Bereich, der dringende und tiefgreifende Reformen nötig hat. Ansonsten war die Freude wohl 2010 am größten, als für Bosnien der visumfreie Verkehr eingeführt wurde. Nun wussten alle, dass man in Europa willkommen ist. Jedenfalls sollte die EU bei der Durchsetzung ihrer Ziele und Prinzipien hartnäckig und konsequent bleiben. Fassadendemokratie und Schlagzeilenpolitik müssen durch harte Arbeit und Resultate ersetzt werden.
Die künftige Mitgliedschaft der Balkanländer ist aber schließlich auch in Österreichs sicherheitspolitischem Interesse. Menschenhandel, Flüchtlingsrouten, Waffen- und Drogenschmuggel werden über den Balkan abgewickelt. Unser Interesse ist es, dass dort nicht Gesetzlosigkeit, Korruption und Kriminalität regieren, sondern Rechtsstaatlichkeit, Stabilität und Prosperität.
Bosnien und Herzegowina war bereits einmal Teil Europas, im Rahmen des Habsburgerreiches. Anfänglich skeptisch, waren die Bosnier zum Großteil begeisterte Bürger des Vielvölkerstaates und gehörten zu den tapfersten Kämpfern der k. u. k. Armee. So sind allein in Lebring bei Graz über 800 Bosniaken, weitere am Isonzo/Soča begraben. In der Zeit der Monarchie gab es in Bosnien einen gewaltigen Modernisierungsschub in den Bereichen Infrastruktur, Bildung, Verwaltung und Architektur. Österreich hat deshalb einen guten Ruf im Land. Die meisten Bosnier fühlen sich als Europäer und wollen auch formell Mitglied der Europäischen Union werden. Gehen wir also aufeinander zu.
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Valentin Inzko