Die Angst vor einem Einsatz von russischen Atomwaffen in der Ukraine hat das Handeln der Vereinigten Staaten und Europas seit Kriegsbeginn bestimmt. Vor allem in den ersten Kriegsmonaten war die Sorge groß, dass das Überschreiten möglicher roter Linien des Kremls, etwa durch die Lieferung von Panzern oder Flugzeugen, zu einem Schlag mit taktischen Nuklearwaffen führen könnte.
In welchen Situationen die Regierung in Moskau einen Einsatz von Atomwaffen auf dem unmittelbaren Gefechtsfeld anordnen könnte, zeigen nun russische Militärakten, die kürzlich der „Financial Times“ (FT) zugespielt wurden. Die insgesamt 29 Papiere sind zwar knapp zehn Jahre alt, doch westliche Sicherheitsexperten gehen davon aus, dass sich an den grundlegenden Überlegungen der russischen Militärstrategen seither nicht viel geändert hat.
Laut den Dokumenten würde Russland taktische Atomwaffen, die über deutlich kleinere Sprengköpfe verfügen als strategische Interkontinentalraketen, vor allem dann einsetzen, wenn es einer Bedrohung mit konventionellen Mitteln nicht mehr Herr wird. In diesem Zusammenhang werden aber auch konkrete Kriterien aufgelistet, etwa ein umfassendes Eindringen des Gegners auf russisches Territorium oder die Zerstörung von 20 Prozent der russischen Militär-U-Boote. Laut Alexander Gabuev, dem Direktor des Carnegie Russia Eurasia Center in Berlin, ist es das erste Mal, dass es so eine genaue öffentliche Einsicht in Russlands Atomwaffen-Doktrin gibt.
Angriff durch China als Übungsszenario
Die geschätzt 2000 taktischen Atomwaffen im russischen Arsenal sind primär für den Einsatz in Europa oder Asien konzipiert und können vom Festland, von Flugzeugen oder von See aus eingesetzt werden – für einen Einsatz gegen die USA verfügen sie nicht über die nötige Reichweite. Laut der FT beinhalten die Dokumente auch Übungsszenarien für einen möglichen Angriff auf Russland durch China. Peking ist im Zuge des Ukrainekriegs zwar zum wichtigsten Partner Moskaus geworden, die Akten zeigen aber, wie tief das Misstrauen auf russischer Seite in den Jahrzehnten davor war.
Dass Russland taktische Atomanschläge im Zusammenhang mit dem Ukrainekrieg durchführen könnte, hatte Präsident Wladimir Putin im vergangenen Juni vom Tisch gewischt. Laut dem Kreml-Chef gibt es im Rahmen der russischen Nuklear-Doktrin nur zwei mögliche Gründe für den Einsatz: zum einen die Vergeltung für einen vorausgehenden Atomanschlag, zum anderen die Bedrohung der staatlichen Existenz Russlands. Gleichzeitig prahlte Putin aber immer wieder damit, dass der russische Bestand an taktischen Atomwaffen größter sei als das Arsenal der Nato-Mitgliedsstaaten.
Eskalation zur Deeskalation
Auch William Alberque, Direktor für Strategie, Technologie und Rüstungskontrolle am Internationalen Institut für Strategische Studien, vermutet, dass Russland keine Atomwaffen gegen die Ukraine einsetzen würde. Diese würde man eher gegen Länder, die wie China oder die USA selbst über nukleare Kapazitäten verfügen, einsetzen. Nach dem strategischen Konzept „Eskalation zur Deeskalation“ würde ein Angreifer dann bereits in einer frühen Phase des Konflikts nachhaltig abgeschreckt und an weiteren Vorstößen gehindert werden. Ein Atomangriff auf die Ukraine würde den Konflikt laut Alberque aber noch verschlimmern und eine Intervention seitens der USA oder Großbritanniens herbeiführen. Und dies sei das absolut Letzte, was Putin wolle.