„Die ukrainische Bevölkerung hat die Schnauze voll vom Kriegspräsidenten Wolodymyr Selenskyj. Er belügt sein Volk. Die Korruption treibt im Land sein Unwesen. Die orthodoxe Kirche wird systematisch schikaniert.“

So steht es im „Ukrainian Expat“-Blog. Die Website veröffentlicht russlandfreundliche Falsch-Behauptungen und Halbwahrheiten am laufenden Band. Ein Nachrichten-Medium, geschweige denn eine Zeitung, ist der „Expat“ nicht. Aber er gibt vor, es zu sein. Und versucht, damit Unruhe, Misstrauen und Verwirrung in der westlichen Bevölkerung zu stiften.

180 Follower, aber 600.000 „Sichtkontakte“

Blieb Österreich bisher, wie Experten und das österreichische Außenministerium in der Vergangenheit erklärten, von russischen Trollfabriken und Bot-Nachrichten – also gezielt orchestrierten Fake-News-Meldungen – verschont, scheinen nun auch explizit österreichische Internet-Nutzer ins Visier des Kremls zu geraten. So etwa auch durch die Seite „Ukrainian Expat“, die emotionalisierte Halbwahrheiten über die Ukraine streut. Sie schaltet gezielt Werbung im Raum Wien und bei Nutzern, die auf X (vormals Twitter) der Zeitung „New York Times“ oder dem englischen Nachrichtensender „BBC“ folgen. Auf Twitter folgen der Seite gerade einmal 180 Personen, angezeigt werden die einzelnen Posts hingegen bis zu 600.000 Mal. Das blaue „Verifikation“-Häkchen suggeriert, das Profil sei eine gesicherte, seriöse Quelle. (Der blaue Haken stand bei Twitter in der Vergangenheit für die Echtheit eines Nutzers. Nun gilt: Wer zahlt, bekommt das „Wasserzeichen“.)

„Österreich ist für Desinformationskampagnen durchaus interessant. Unter anderem wegen des UNO-Standorts in Wien oder der OSZE, die ebenfalls in Wien ihren Sitz hat“, erklärt David Jaklin, sicherheitspolitischer Analyst vom Austrian Center for Intelligence, Propaganda and Security Studies (ACIPSS). Russland hätte ein regelrechtes „Ökosystem“ an Falschinformationen geschaffen. Falsche oder irreführende Narrative würden auf unterschiedliche Art und Weise verbreitet werden. Zum einen gäbe es Millionen von Fake-Profilen, die erstellt werden, Fake News streuen und schnell wieder gelöscht werden. „Zum anderen gibt es aber echte Influencer, zum Beispiel Ex-Politiker, die Fake News verbreiten“. Bewusst oder unbewusst. „Die Ökosysteme der Falschinformation sind in sich so verworren, dass gar nicht unbedingt immer eine böse Absicht hinter der Verbreitung steckt“, sagt Jaklin.

Screenshot eines Artikels auf der Desinformationsseite „Ukrainian Expat“
Screenshot eines Artikels auf der Desinformationsseite „Ukrainian Expat“ © kk

Anna, die angeblich kritische Bloggerin

Die Artikel des „Ukrainian Expats“ werden per Blogeintrag gepostet. Ein Impressum sucht man vergeblich. Im „Über uns“-Reiter erhält man mutmaßliche Informationen über den Hintergrund der angeblichen Blog-Verfasserin Anna. „Ukrainian Expat“ wird demnach von einer emigrierten „russischsprachigen“ Ukrainerin betrieben, die mittlerweile in Serbien lebt und sich kritisch mit ihrer Heimat auseinandersetzen möchte. Die Verfasserin bedient dabei den russischen Propaganda-Sprech, schreibt etwa von der „Verfolgung ethnischer Russen“ in der Ukraine seit dem Donbass-Krieg 2014. Die Fakten sprechen natürlich eine andere Sprache: Russland griff 2014 die Ukraine an, annektierte die Krim, stachelte Aufstände in den Separatistenregionen an und verfolgte Ukrainerinnen und Ukrainer, die sich dem russischen Einfluss entzogen.

Die Veröffentlichungen des „Ukrainian Expats“ erfolgen nur scheinbar chronologisch. So finden sich ein und derselbe Artikel-Teaser, etwa zu einem angeblichen „Guinness Weltrekord in Korruption“, immer wieder auf der Homepage. Der Quelltext des Blogs zeigt darüber hinaus, dass ein sogenanntes „Geotargeting Plugin“ verwendet wurde – das heißt, dass Inhalte auf den Standort des Empfängers abgestimmt werden können, maßgeschneidert auf die jeweilige Zielperson. Auch zeigt die Recherche der Kleinen Zeitung, dass die Inhalte des „Ukrainian Expats“ wohl erst seit Mitte bzw. Ende 2023 publiziert werden. Die Domain-Registrierung erfolgte am 25. Juli 2023. Die angebliche Verfasserin „Anna“ behauptet in ihrer Begrüßung hingegen, seit 2021 auf diesem Kanal zu schreiben.

Das Aufkommen von russischen Desinformationskampagnen ist kein Zufall. 2024 wird in Dutzenden Ländern gewählt, die Ausgänge einzelner Wahlen werden enorme geopolitische Auswirkungen haben. Im März lässt sich der russische Präsident Wladimir Putin wiederwählen, im Juni finden die EU-Wahlen statt, im November wählen die USA einen neuen Präsidenten. Einflussnahme im Internet wird zum lukrativen politischen Werkzeug. Erst im Dezember hatte die EU-Kommission deshalb ein Verfahren gegen X eröffnet, um die Verbreitung illegaler Inhalte – die meisten davon aus Russland – zu prüfen. „Gerade im Vorfeld der EP-Wahlen und der Nationalratswahlen im Herbst ist natürlich nicht auszuschließen, dass es zu Versuchen der Beeinflussung u. a. auch durch Falschmeldungen und die gezielte Verbreitung von Desinformation kommt“, heißt es auf Anfrage der Kleinen Zeitung auch seitens des österreichischen Außenministeriums.

50.000 Fake-Konten in Deutschland entlarvt

Bereits im Jänner wurde in Deutschland eine riesige russische Desinformationskampagne aufgedeckt. Mehr als 50.000 Fake-Konten wurden laut dem Magazin „Spiegel“ entlarvt. Das Außenministerium in Berlin beobachtet seit geraumer Zeit mit mehreren Datenanalysten Debatten zu außenpolitischen Themen in den Online-Netzwerken. Ziel ist es, Versuche der Einflussnahme durch ausländische Akteure aufzudecken. „Desinformation ist zu einem globalen Bedrohungsfaktor geworden“, sagte ein Sprecher des Auswärtigen Amts dem „Spiegel“. „Sie wird von denjenigen, die unsere Werte nicht teilen, gezielt eingesetzt, um ganze Gesellschaften zu destabilisieren – nicht nur in westlichen Demokratien, sondern überall.“

Die Analysten in Deutschland rechnen laut dem Bericht die aktuelle Angriffswelle der sogenannten Doppelgänger-Kampagne zu, die 2022 bekannt wurde und auch auf andere europäische Länder zielt. Einiges deutet demnach darauf hin, dass ein großer Teil der Kampagne automatisiert funktioniert und durch Algorithmen gesteuert wird.