Die letzten Monate, Wochen und Tage von Alexej Nawalny sind in Russland ein Rätsel. Selbst um die Stunden nach seinem Tod ranken sich viele Theorien. Von den Behörden des Straflagers „Polarwolf“ heißt es, Nawalny sei am Freitag zusammengebrochen. Wiederbelebungsmaßnahmen seien fehlgeschlagen.

Die Unterstützerinnen und Unterstützer Nawalnys glauben den Behörden nicht. „Vor drei Tagen hat Wladimir Putin meinen Mann Alexej Nawalny getötet“, sagt seine Witwe Julia Nawalnaja in einer am Montag auf YouTube veröffentlichten Videobotschaft. Die Haftbedingungen für Nawalny seien katastrophal gewesen. Folter und Einzelhaft seien an der Tagesordnung gestanden. Ein vor einigen Monaten veröffentlichtes Video zeigt, wie Nawalny von den Beamten bestraft wird, weil er seine Kleidung nicht zugeknöpft hat. Dass sie ihm absichtlich zu kleine Kleidung gegeben haben, verschweigt er.

Hektische Stunden rund um Nawalnys Tod

Die russische Zeitung „Nowaja Gaseta“ veröffentlichte zudem einen Bericht, in dem ein Mithäftling Nawalnys über die letzten Tage des Oppositionellen spricht. Bereits am Donnerstag, dem 15. Februar, sei es im Lager zu Tumulten gekommen. „Es begann damit, dass die abendlichen Kontrollen, die zwischen 20 und 20.30 Uhr stattfinden, stark beschleunigt wurden“, wird der Mann zitiert. Danach seien die Häftlinge auf die Baracken verteilt und angewiesen worden, sich nicht zwischen den Baracken zu bewegen. Außerdem seien die Wachen verstärkt worden.

In der Nacht fuhren drei Autos auf das Gelände, am Morgen wurden die Zellen der Gefangenen akribisch durchsucht. Die Wärter beschlagnahmten Handys, Spielkarten und sogar Wasserkocher, die sie zuvor bei Kontrollen immer toleriert hatten. Er sei davon ausgegangen, dass eine Kontrolle durch die Behörden bevorstehe, sagte der Häftling der Zeitung. In der Regel erfuhr die Haftanstalt ein bis zwei Tage vorher von solchen Kontrollen durch übergeordnete Behörden.

„Der Chosain (Kommandant) und der Kum (Einsatzleiter der Kolonie) schlichen schon am Morgen wie begossene Pudel umher“, sagt er. Um 13 Uhr fuhren immer mehr Autos auf den Gefängnishof. Zu diesem Zeitpunkt erfuhr die Welt vom Tod Nawalnys.

Was genau in diesen Stunden geschah, wird wohl nie ganz unabhängig aufgeklärt werden können. Eine Quelle sind die Briefe, die Nawalny in den vergangenen Monaten an seine Frau und seine Unterstützer schrieb. Die jetzt von der „New York Times“ veröffentlichten Briefe zeigen, dass Nawalny trotz der katastrophalen Haftbedingungen stets klare Gedanken formulierte und nie den Anschein psychischer Schwäche erweckte.

Nawalny machte sich um die USA Sorgen

An einen Bekannten schrieb er im Juli, niemand könne das russische Gefängnisleben verstehen, „ohne hier gewesen zu sein“, und fügte mit trockenem Humor hinzu: „Aber man muss nicht hier sein. Aber es gibt keinen Grund, hier zu sein“. Im August schrieb er: „Wenn sie befohlen bekommen, dass du morgen Kaviar essen sollst, werden sie dir Kaviar geben. Wenn sie befohlen bekommen, dass du in deiner Zelle erwürgt werden sollst, werden sie dich erwürgen.“

Nawalny versuchte auch, die amerikanische Politik zu verfolgen. So bezeichnete er die Wahlbewegung von Donald Trump als „sehr furchterregend“. „Trump wird Präsident werden“, sollte Präsident Biden gesundheitlich angeschlagen sein, schrieb Nawalny aus seiner Hochsicherheitsgefängniszelle. „Beunruhigt diese offensichtliche Tatsache die Demokraten nicht?“ Ob er mit seiner Prognose richtig liegt, wird Nawalny nie erfahren.