Seit Israels Regierungschef Benjamin Netanjahu mit einem Angriff auf Rafah den „totalen Sieg über die Hamas“ versprochen hat, wächst dort die Angst. Die Folgen einer Bodenoffensive wären für das dicht besiedelte Gebiet verheerend. International stößt die geplante Offensive auf Kritik. So warnte etwa Frankreichs Präsident Emmanuel Macron beim Empfang des jordanischen Königs Abdullah II. vor einer „beispiellosen humanitären Katastrophe“. Derzeit leben 1,4 Millionen Menschen auf engstem Raum – vor dem Krieg waren es 300.000. Etwa die Hälfe der Palästinenser sind Kinder. Auf der Flucht haben viele von ihnen ihre Familien oder Teile davon verloren.

Die Ungewissheit begleitet alle in Rafah – die Helfer ebenso wie die Bewohner. Die in Zelten zusammengepferchten Palästinenser wissen nicht, wohin. Die Bitte Israels an die UNO, vor einer Offensive bei der Evakuierung zu helfen, wurde abgelehnt. Man wolle sich „nicht an einer Vertreibung beteiligen“, teilte die Staatenorganisation mit. Die hygienische und humanitäre Situation in Rafah ist katastrophal: keine Nahrung, kein Wasser, zunehmende Infektionskrankheiten.

„Es fehlt an allem“

„Erschreckend“ beschreibt Lisa Macheiner von Ärzte ohne Grenzen die Lage vor Ort. Mit dem Al Emirate Maternity Hospital gibt es nur noch eine Einrichtung, die sich um die medizinische Versorgung schwangerer Frauen kümmert. Hier kommen heute dreimal so viele Kinder zur Welt wie vor dem Krieg. Wegen des enormen Platzmangels werden die Mütter jedoch innerhalb von 24 Stunden nach der Geburt entlassen. „Den Menschen hier fehlt es eigentlich an allem – an Essen, an Wasser, aber vor allem an medizinischer Versorgung“, sagt Macheiner.

Kollegen hätten sie zwar vorab über die Lage informiert, doch als sie am Sonntag ankam, habe sie ihren Augen nicht trauen können. Ein Mann habe auf einer Plastiktüte neben schreienden Kindern gekniet und gebetet, seinen Gebetsteppich habe er – wie so vieles – in den letzten Monaten verloren.

17.000 ohne Eltern

Besonders Kinder leiden unter den Zuständen, wie Philipp Zwehl von SOS-Kinderdorf Österreich zu berichten weiß. Das SOS-Kinderdorf ist bereits seit dem Jahr 2000 mit einem Nothilfeprojekt vor Ort, aktuell werden bis zu 75 Kinder im Alter zwischen einem und 14 Jahren im Camp betreut und mit dem Wichtigsten zum Überleben versorgt. Die Kinder, die in Rafah betreut werden, haben in den fünf Monaten seit Ausbruch des Krieges Unvorstellbares erlebt. Einige begannen ihre Flucht mit ihren Familien, die auf dem Weg starben oder von denen sie getrennt wurden, rund 17.000 Kinder sollen bereits ihre Eltern verloren haben.

Für die nahe Zukunft ist Zwehl wenig optimistisch. Er appelliert, dass es zunächst einen Waffenstillstand geben müsse, um die unschuldigen Kinder auf die drohenden verheerenden Folgen einer Bodenoffensive vorzubereiten. „Viele Menschen haben die Hoffnung verloren“, sagt Zwehl über die „realistische Einstellung“ der Menschen vor Ort und zitiert eine Mutter, die jeden Tag mit ihrem Kind in Angst ins Bett geht: „Mama, wann ist es vorbei? Werden wir heute Nacht sterben?“

Evakuierungen gescheitert

Der Versuch, die Kinder zu evakuieren, scheiterte bisher. Es konnte noch kein Ort gefunden werden, der den notwendigen Sicherheitsvorkehrungen und Lebensstandards entspricht, eine Evakuierung nach Ägypten ist seit der Schließung der Grenze nicht mehr möglich. Das Nachbarland will einen Ansturm von Palästinensern verhindern. Dennoch bereitet sich Kairo laut Medienberichten auf eine Massenflucht vor. In einem nahe der Grenze zum Gazastreifen in der ägyptischen Wüste Sinai gelegenen Lager könnten mehr als 100.000 Menschen in Zelten untergebracht werden. Offiziell wurden derartige Vorbereitungen jedoch dementiert.

Obwohl das ständige Leben in Angst eine Routine fast unmöglich macht, versuchen die Betreuer den Kindern durch regelmäßige psychosoziale Unterstützung und die Grundversorgung mit den in Palästina derzeit sehr knappen Ressourcen eine gewisse Lebensqualität zu sichern.

Trotz einiger internationaler Kooperationen ist die Beschaffung dieser Ressourcen aufgrund des stark eingeschränkten Zugangs zum Gazastreifen äußerst schwierig. Seit Beginn des Krieges kommen nur noch zehn bis 15 Prozent der humanitären Hilfslieferungen an, was eine Grundversorgung für die Kinder deutlich erschwert.