Hunderte Kilometer weit weg von der Front sieht knapp zwei Jahre nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine zunächst wenig danach aus, dass sich das Land im Krieg befindet. Auch darum suchen viele der mehr als fünf Millionen Binnenvertriebenen hier im Westen des Landes Schutz. Wie etwa in Drohobytsch, wo sich an einem verregneten Vormittag Dutzende Frauen vor einem Sozialzentrum anstellen. Eine von ihnen ist die fünffache Mutter Nadia (42). Dabei war ihre Familie – es sind Krim-Tataren, eine kleine Minderheit im Land – noch vor ein paar Jahren vergleichsweise wohlhabend. Doch 2014 ändert sich alles, erzählt die schüchterne Frau.
Zum zweiten Mal alles verloren
Als Russland die Krim-Halbinsel damals annektiert, wird die Familie aus ihrem Haus vertrieben, flüchtet in die Region Cherson, wo sie sich ein neues Leben aufbaut, ihr kleines Café hat bald viele Stammkunden, die zu neuen Freunden werden. Doch das Glück währt nur bis zum Februar 2022. Der Ort der Familie wird in den ersten Kriegstagen von russischen Soldaten eingenommen. „Sie haben alles zerstört, was ihnen in die Quere kam“, der Schmerz klingt in Nadias Stimme unüberhörbar mit. „Sie haben Mädchen die Handys weggenommen und sie vergewaltigt“. Die Familie versteckt die Töchter und der Vater plant die Flucht in den Westen. Er selbst will bleiben, um sich der ukrainischen Armee anzuschließen. „Er konnte nicht akzeptieren, schon wieder alles zu verlieren.“ Wie es ihm heute geht, weiß Nadia nicht, nur dass er in der Nähe von Cherson ist.
Das neue Glück fand ein jähes Ende, als Russland vor zwei Jahren die Ukraine noch umfassender angreift. Russische Soldaten plündern den Ort, auch das Café. Alles, was wertvoll sein könnte wurde gestohlen. Jüngere Frauen werden aus Angst vor Vergewaltigungen versteckt gehalten. Der Vater schickt den Rest der Familie in den Westen, er selbst will nun kämpfen, nicht akzeptieren, schon wieder alles zu verlieren. Er meldet sich freiwillig bei der ukrainischen Armee. Sichtlich bewegt erzählt Nadia davon, als ihnen der bei der Flucht in einem kleinen Auto der Sprit ausgeht und ihnen inmitten von Raketenbeschuss ehemalige Stammkunden zur Hilfe eilen. Die Flucht gelingt.
Niemand denkt an den Krieg
Im Sozialzentrum bekommen Leute wie Nadia weiße Sackerl mit dringend benötigten Lebensmitteln, Mehl, Öl, Zucker, Konserven und Gutscheine für Hygieneprodukte. Einige Kinder werden hier auch am Nachmittag betreut, lernen Englisch und den Umgang mit Computern. An diesem Tag ist eine kleine Delegation der Caritas Österreich zu Gast, die einige Partnerprojekte in der Ukraine besichtigt. Die neun bis zehnjährigen Kinder tauen schnell auf und stellen sich nicht ohne Stolz über das Erlernte auf Englisch vor. Ein Bub will alles über Schulen in Österreich wissen. „Gibt es dort auch Hausaufgaben?“, fragt er nach – die Reaktion seiner Lehrerin vorsichtig beobachtend. Nichts in dem Raum erinnert an Krieg und in diesem Moment denkt wohl auch niemand daran.
Doch nur zwei Tage nach dem Besuch werden die Bewohner Drohobytschs – der Ort ist keine 60 Kilometer von der polnischen Grenze entfernt – daran erinnert, wozu die russische Armee auch ganz im Westen der Ukraine in der Lage ist. Ein Geschoss zerstört eine Industrieanlage, verletzt wurde dabei niemand. Doch in Kiew fordert derselbe groß angelegte Luftangriff vier Menschenleben, Dutzende werden verletzt. Obwohl die ukrainische Luftabwehr mittlerweile (auch wegen der westlichen Unterstützung) fast alle Angriffe abwehrt, ist sie nicht unfehlbar. Ein Wohnhaus wird getroffen. Die Caritas-Delegation und ein paar Journalisten aus Österreich befinden sich zu dem Zeitpunkt in der Stadt, kommen aber mit dem Schrecken davon. Sie verbringen die frühen Morgenstunden im Bunker ihres Hotels, die Erfahrung vermittelt nur einen kleinen Eindruck davon, was der Kriegsalltag bedeutet.
„Manche Kinder können besser mit der Situation umgehen als Erwachsene“, erzählt Luba und berichtet von Kindern, die in den ersten Kriegstagen für ihre Eltern gekocht haben, weil die sich in einer Art Schockstarre befanden. „Aber sie haben trotzdem Angst, viele weinen, wenn sie in den Bunker müssen, auch wenn sie die Prozedur schon gut kennen.“ Die Schule in Chmelnyzkyj, in der Luba unterrichtet, ist eine von 18, die mit Unterstützung der Caritas Ukraine psychosoziale Unterstützung anbieten, sowohl für die Kinder, als auch für die Eltern, sie lernen, sich gegenseitig zu stärken. Es ist die Art von Hilfe, die es eigentlich im ganzen Land so dringend bräuchte, um den Menschen Werkzeuge gegen die enorme psychische Belastung mitzugeben. Die Suizidrate stieg zuletzt stark an, sogar Kinder haben sich das Leben genommen.
Nachdem der Luftalarm in Kiew vorbei ist, geht es in einen Vorort der Hauptstadt, zu einem älteren Ehepaar, Nina (70) und Vasily (75). Russische Soldaten haben, als sie Richtung Kiew vorgedrungen sind, mehrere Granaten in den Keller ihres Hauses geworfen.
Heute steht neben der Ruine ein Modulhaus, 36 Quadratmeter groß, mit Küche und einem Holzofen, für den Fall, dass die Stromversorgung wieder zusammenbricht. Die beiden hatten das Glück, in das Wiederaufbauprogramm zu kommen, das von Nachbar in Not finanziert wurde. Längerfristig will das Paar aber das alte Haus wiederaufbauen, „So Gott will“, hofft Nina lächelnd. Wenig später schlagen die Handy-Apps der Besucher plötzlich lautstark Alarm. Schnell geht es in den nächsten Bunker. Doch diesmal sollte es ein Fehlalarm bleiben.