Tagelang ließen die USA mit ihrer angekündigten Vergeltung auf sich warten. In der Nacht auf Samstag schlug das US-Militär dann zu. 30 Minuten lang feuerten amerikanische Streitkräfte nach eigenen Angaben aus der Luft auf mehr als 85 Ziele an sieben Standorten im Irak und Syrien: auf Kommandozentralen, Geheimdienststandorte und Waffenlager, die demnach von den iranischen Revolutionsgarden (IRGC) und mit ihnen verbundenen Milizen genutzt wurden.

Die Serie an Luftschlägen bedeutet eine neue Eskalation im Nahen Osten - auch wenn die Amerikaner bewusst darauf verzichteten, Ziele im Iran selbst anzugreifen. Doch US-Präsident Joe Biden macht klar: Dies ist nur der Anfang.

Am vergangenen Sonntag waren bei einem Drohnenangriff pro-iranischer Milizen in Jordanien drei amerikanische Soldaten getötet und zahlreiche weitere verletzt worden. Am Freitag wurden die Leichname in die USA überführt. Auf dem US-Luftwaffenstützpunkt Dover im Staat Delaware erwies Biden ihnen die letzte Ehre. Knapp zwei Stunden später begannen Tausende Kilometer entfernt die Luftschläge im Irak und in Syrien. Das US-Militär betonte, das Timing sei Zufall. Der Zeitpunkt der Luftschläge habe sich allein nach militärischen Überlegungen gerichtet - nach günstigen Wetterbedingungen.

Biden hatte direkt nach der Attacke in Jordanien mit Vergeltung gedroht, sich mit dem Wie und Wo aber Zeit gelassen. Er stand vor der schwierigen Aufgabe, eine Balance zu finden: Die von Teheran unterstützten Kräfte in der Region abzuschrecken, ohne dabei noch härtere Reaktionen zu provozieren; Stärke zu demonstrieren und möglichst den Tod weiterer US-Soldaten zu verhindern, ohne die Lage im Nahen Osten komplett zu eskalieren und einen Krieg mit dem Iran zu riskieren.

Am Samstag, dem Tag nach den nächtlichen Angriffen, herrschte im Irak und in Syrien eine angespannte Ruhe. Mindestens 34 Menschen wurden dabei getötet: Menschenrechtsaktivisten sprachen von 18 Opfern in Syrien während die Regierung im Irak von 16 Toten sprach. Beide Länder verurteilten die Angriffe. Absprachen habe es vorher nicht gegeben, heißt es aus Bagdad. Die Diskussion über einen möglichen Abzug der rund 2.500 im Land stationierten US-Soldaten ist damit neu entfacht.

Mehr als 150 Mal griffen pro-iranische Gruppen seit Mitte Oktober die US-Stützpunkte in beiden Ländern an, das US-Militär reagierte mehrfach. In dieser Spirale aus Angriffen und Gegenschlägen ist unwahrscheinlich, dass die Attacken proiranischer Milizen nun aufhören. Gefährlich werden könnte es besonders dann, wenn durch eine erneute Attacke von Milizen - etwa durch schlechte Planung oder Ausführung - eine noch größere Zahl US-Soldaten getötet würde. Danach wäre ein direkter Angriff auf die iranischen Revolutionsgarden denkbar - und damit eine dramatische Ausweitung des Konflikts.

Eigendynamik

Der Iran und die USA standen in der Vergangenheit immer wieder am Rande eines Krieges. Im Jänner 2020 - unter dem damaligen Präsidenten Donald Trump - töteten die USA den mächtigen iranischen General Ghassem Soleimani sowie den irakischen Milizenführer Abu Mahdi al-Muhandis bei einem Drohnenangriff in Bagdad. Es folgten Wochen militärischer Spannungen. Je tiefer die USA nun in die neuen Konfrontationen mit dem Iran und dessen Verbündeten gezogen werden, desto größer ist die Gefahr, dass diese eine Eigendynamik entwickeln - unabhängig vom Gaza-Krieg, auch wenn dieser der Auslöser war.

Seit dem Beginn des Gaza-Krieges zwischen Israel und der militanten Palästinenser-Organisation Hamas im Oktober artet die Lage im Nahen Osten zunehmend aus. Während Israel die Hamas im Gazastreifen bekämpft, kommt es in der israelisch-libanesischen Grenzregion fast täglich zu Angriffen zwischen Israel und der Hisbollah. Gleichzeitig tyrannisiert die jemenitische Houthi-Miliz aus Solidarität mit der Hamas die internationale Container-Schifffahrt im Roten Meer. Alle drei Gruppen - Hamas, Hisbollah und Houthi - sind eng mit dem Iran verbunden. Und der Gaza-Krieg wird mehr und mehr zu einem Schattenkonflikt nicht nur zwischen Israel und dessen Erzfeind Iran, sondern auch zwischen Washington und Teheran.

Die USA - als engster Verbündeter Israels - gerieten in den vergangenen Wochen selbst verschärft ins Visier proiranischer Milizen. Die Attacke in Jordanien war nur der vorläufige Höhepunkt einer ganzen Serie von Anschlägen auf amerikanische Ziele in der Region. Seit dem Beginn des Gaza-Krieges gab es mehr als 160 Attacken auf US-Kräfte im Irak und Syrien. Die USA reagierten bereits zuvor mit Luftschlägen in beiden Ländern. Doch mit dem Tod der drei Soldaten in Jordanien nahe der syrischen Grenze wurde eine neue Dimension erreicht. Biden stand unter großem Druck, nun härter als zuvor zurückzuschlagen.

Schwäche

Der Demokrat steckt mitten im Wahlkampf für eine zweite Amtszeit. Republikaner - allen voran Bidens Amtsvorgänger und voraussichtlicher Herausforderer bei der nächsten Präsidentenwahl im November, Donald Trump - warfen dem Präsidenten zuletzt Schwäche vor und forderten ihn auf, endlich durchzugreifen. Scharfmacher wie der republikanische Senator Lindsey Graham verlangten sogar einen US-Angriff auf iranischem Boden. Das wäre der drastischste und wohl folgenreichste Schritt gewesen. Biden entschied sich dagegen.

Allerdings macht er klar, dass noch mehr kommen wird. „Unsere Reaktion hat heute begonnen. Sie wird fortgesetzt zu Zeiten und an Orten unserer Wahl“, erklärte er nach den Luftschlägen im Irak und Syrien. Hochrangige US-Regierungsvertreter hatten bereits im Voraus angekündigt, die Vergeltung werde in mehreren Schritten über einen gewissen Zeitraum hinweg erfolgen. Wann, wo und wie die Amerikaner als nächstes zuschlagen, dürfte auch davon abhängen, was der Iran und dessen verbündete Milizen nun tun.

„Die Vereinigten Staaten streben keinen Konflikt im Nahen Osten oder irgendwo sonst in der Welt an“, betonte Biden. „Aber all jene, die uns Schaden zufügen wollen, sollen dies wissen: Wenn Sie einem Amerikaner Schaden zufügen, werden wir darauf reagieren.“

US-Außenminister Antony Blinken bezeichnete die Lage im Nahen Osten vor wenigen Tagen als so gefährlich wie seit einem halben Jahrhundert nicht mehr. Der US-Regierung ist es trotz atemloser Diplomatie und diverser Militäraktionen gegen die Houthi und andere proiranische Gruppen in der Region nicht gelungen, die Spannungen einzudämmen. Im Gegenteil. Mit jeder neuen Eskalation wächst die Sorge, dass ein Flächenbrand in der Region nicht mehr abzuwenden ist. Bidens Regierung wiederholt zwar seit Wochen, die USA wollten keine Ausweitung des Konflikts und vor allem keinen Krieg mit dem Iran. Doch die Gefahr ist da.

(Von Christiane Jacke und Johannes Sadek/dpa)