Die Zahl war gewaltig. An den Demonstrationen gegen Rechtsextremismus und für den Schutz der Demokratie haben sich am vergangenen Wochenende in Deutschland nach Polizeiangaben mehr als 900.000 Menschen beteiligt. Mehr als 250.000 Menschen machten in München nach Angaben der Veranstalter gegen Rechts mobil. So viele waren in die Innenstadt gekommen, dass die Polizei die Demonstration abbrach. Sicherheitshalber. Auch in Berlin kamen mindestens 100.000 Menschen auf den Platz der Republik vor dem Brandenburger Tor. Bis zur Siegessäule stauten sich die Menschen. So viele hatte für die Politik an diesem Ort zuletzt 2008 Barack Obama mobilisiert, damals noch als wahlkämpfender Organisator. Die Unterstützung reicht bis hinein ins Unionslager. Die „schweigende Mehrheit“ erhebe ihre Stimme, befand CDU-Parteichef Friedrich Merz am Montag.
Es brauchte etwas, wie so oft in Deutschland, ehe sich der Widerstand manifestierte. Auslöser waren Mitte Januar Recherchen des spendenfinanzierten Netzwerks „Correctiv“ über ein Treffen des österreichischen Rechtsextremisten Martin Sellner mit deutschen Rechtsaußen in einer Villa in Potsdam. Auch über Pläne der Remigration wurde dort in rechtskonservativ bürgerlichen Ambiente sinniert, der Ausschiffung von Menschen ins Ausland, auch jenen mit deutschem Pass. Von einem „Angriff auf uns alle“, sprach Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD).
Klare Worte der katholischen Bischöfe
Schon am vorvergangenen Wochenende war es zu ersten Kundgebungen gekommen. Schon da waren die Teilnehmerzahlen überraschend groß. In Berlin etwa hatten die Veranstalter mit rund fünfhundert Teilnehmern gerechnet. Gekommen waren zu der spontanen Kundgebung rund 15.000 Menschen. Ein erstes Anzeichen für den Widerstand gegen den rechten Extremismus aus der Mitte. Kanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock demonstrierten auf einer parallelen Veranstaltung in Potsdam.
Doch zeigt ein Blick auf die Veranstalter eine Verschiebung der zivilgesellschaftlichen Kräfte in Deutschland. Federführend waren nicht Gewerkschaften oder Parteien, die Klimabewegung „Fridays for Future“ um Luisa Neubauer hatte zu den Demonstrationen aufgerufen. Sie zählte zu den zentralen Rednerinnen der Veranstaltung in Berlin. Ebenso wie Tareq Alaows. Der Syrer war 2015 nach Deutschland geflohen, 2021 hatte er sich für die Grünen um ein Bundestagsmandat beworben, er musste die Kandidatur aber nach Morddrohungen zurückziehen. Nun stand Alaows für das Bündnis „Wir sind die Brandmauer“ vor dem Brandenburger Tor in Berlin.
Lange reagierten Verbände und Zivilgesellschaft relativ apathisch auf die Umfrageerfolge der AfD. Erst um die Jahreswende mehrten sich die ersten kritischen Stimmen. Die AfD sei „schädlich für die Zukunft unseres Landes“, warnte Sigfried Russwurm, der Präsident des Bundesverbandes der deutschen Industrie (BDI). Auch die katholischen Bischöfe im Osten Deutschlands erhoben die Stimme. „Die unantastbare Würde des Menschen zu achten und zu schützen, muss die oberste Richtschnur unseres Handelns sein“, warnten sie in einer Erklärung. Der Erfurter Bischof Ulrich Neumayr sagte in einem Interview: „Weder Rassismus noch Antisemitismus sind mit dem christlichen Menschenbild vereinbar.“ Deutliche Worte. Auf der Trauerfeier für Franz Beckenbauer in der Münchner Allianz-Arena sprach sich auch Uli Hoeneß, Ehrenpräsident des FC Bayern München, gegen die AfD aus. Nach langem Schweigen fand auch der blasse und stets überfordert wirkende Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier am Wochenende eine Stimme. „Wir brauchen jetzt ein Bündnis aller Demokratinnen und Demokraten“, mahnte er.
Wüst: „AfD ist Nazi-Partei“
Das Potsdamer Treffen hat nicht nur die Gesellschaft aufgerüttelt. Auch Parteien wie CDU und FDP denken um. Lange hatten die Parteichefs Friedrich Merz und Christian Lindner gehofft, mit markigen Sprüchen wie „Paschas“ (Merz) und „arbeitende Frühaufsteher“ (Lindner) Wählerschaft am rechten Rand zurückzuholen. Genutzt hat es wenig. In Brandenburg, Sachsen und Thüringen wird im Herbst gewählt, in allen drei Bundesländern führt derzeit in Umfragen die AfD. Die Wähler nehmen lieber das Original als die Kopie. Hendrik Wüst, CDU-Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen, betonte: „Die AfD steht nicht auf dem Boden des Grundgesetzes. Sie ist keine konservative und keine werteorientierte Partei. Das ist eine brandgefährliche Nazi-Partei.“