Als sich am 5. 12. 2013 die Nachricht wie ein Lauffeuer verbreitete, dauerte es nicht lange, bis sich vor dem Haus im noblen Johannesburger Vorort Houghton eine große Menschentraube bildete. Alte und Junge, Schwarze und Weiße, Geschäftsmänner und Parkplatzwächter – sie alle waren gekommen, um sich vom großen alten Mann Südafrikas zu verabschieden. Die alle Gräben überwindende Regenbogennation, die Nelson Mandela als großer Traum für sein geschundenes Land vorschwebte, manifestierte sich an seinem Todestag im Kleinen auf der Straße vor seinem Haus.

Schon in den Monaten vor Mandelas absehbarem Tod war in Südafrika aber überall die klamme Frage nach dem Danach zu hören gewesen. Denn auch viele Jahre nach seinem Rücktritt als Präsident galt der Friedensnobelpreisträger als moralische Instanz und Kompass Südafrikas. Jeder Politiker musste sich implizit der Frage stellen, ob seine Vorhaben im Einklang mit dem Erbe jenes Mannes stehen, der von vielen im Land nur Madiba genannt wurde.

Wie sehr die Anti-Apartheid-Ikone dem Land als verbindenden Kitt heute fehlt, ist am zehnten Todestag Mandelas offensichtlich. Der ANC, der seit 1994 mit absoluter Mehrheit regiert, ist in interne Grabenkämpfe verstrickt, während es mit dem Land schon seit Jahren nicht bergauf, sondern eher bergab geht. Trotz eines enormen Reichtums an Rohstoffen und Bodenschätzen steigen Armut, Arbeitslosigkeit und Kriminalität stetig. Das Bildungs- und das Gesundheitssystem bröckeln. Die Regierung ist von Korruption, Günstlingswirtschaft und Inkompetenz zerfressen. Staatseigene Betriebe gehen bankrott. „Mandelas Traum steckt in einer tiefen Krise. Seine Vorstellungen von einer nicht rassistischen Gesellschaft, die für alle sorgt und niemanden zurücklässt, sind gescheitert. Wir haben auf allen Ebenen Rückschritte gemacht“, sagt William Gumede, der Vorsitzende der Democracy-Works-Stiftung, gegenüber der Nachrichtenagentur dpa.

Fast jeder zweite Junge ohne Job

Südafrikas größtes Problem ist aber längst nicht mehr ausschließlich eines von Schwarz gegen Weiß. Das Land laboriert vor allem an der wachsenden wirtschaftlichen Ungerechtigkeit, die die Schere zwischen Arm und Reich so weit hat auseinandergehen lassen wie kaum sonst wo auf der Welt. Zwar verdienen weiße Südafrikaner im Schnitt noch immer dreieinhalbmal so viel wie ihre schwarzen Mitbürger, doch zu den Wohlhabendsten des Landes gehören auch die sogenannten „Black Diamonds“, millionenschwere schwarze Unternehmer und Politiker. Gleichzeitig findet fast ein Drittel der Südafrikaner keinen Job. Besonders hoch von der Arbeitslosigkeit betroffen sind junge Menschen. Von den 15- bis 34-Jährigen – also jener Altersgruppe, von der beim Ende der Apartheid geglaubt wurde, dass sie es einmal besser haben wird – ist fast die Hälfte ohne Beschäftigung. Dabei schützt auch eine gute Ausbildung nicht vor Arbeitslosigkeit. Selbst wer fundierte IT-Kenntnisse hat, sucht oft vergeblich nach einer Fixanstellung, prekäre Beschäftigungsverhältnisse sind die Regel, nicht die Ausnahme. „Es gibt keine Möglichkeit, voranzukommen“, sagte die 22-jährige Portia Stafford, die trotz des Abschlusses einer höheren Schule seit Jahren keinen Job findet, zur „New York Times“.

Die Frustration – zuletzt gaben 70 Prozent der Südafrikaner an, dass sich ihr Land in die falsche Richtung entwickelt – entlädt sich mittlerweile aber nicht mehr nur an Mandelas Nachfolgern im Präsidentenamt. Auch der Übervater der Nation selbst muss bereits gelegentlich als Sündenbock für den Abstieg der am weitesten entwickelten afrikanischen Volkswirtschaft herhalten. Vor allem Junge, die Mandela nur aus Schulbüchern oder als bronzene Statue kennen, aber nie bewusst erlebt haben, werfen ihm vor, die strukturellen Ungleichheiten nach dem Ende der Apartheid zu wenig angegangen zu sein.

Mandela als nationaler Trumpf

Als Nation steht Südafrika freilich nach wie vor fest hinter seinem größten Helden, der dem Land auf internationaler Ebene bis heute Achtung und Wertschätzung verschafft. Mandela werde geschickt als Vorzeigeobjekt aus der Schublade geholt, wann immer es nützlich sei, etwa, um Investoren zu beeindrucken, sagt der Soziologe Roger Southall von der Witwatersrand-Universität in Johannesburg. Obwohl in Südafrika alle politischen Indikatoren auf Rot stehen, treffe man sich weiter „auf Augenhöhe“ und drücke dazu noch viele Augen zu. Es ist, als wolle die Welt verzweifelt am Glauben festhalten, dass Südafrika das fortschrittlichste Land des Kontinents und das Aushängeschild Afrikas sei. „In Wahrheit werden Mandelas Ideale aber schon lange nicht mehr berücksichtigt“, sagt Southall. „Wäre er heute hier, wäre er sehr enttäuscht.“