Dass es Olaf Scholz wichtig war, schon vor der Ankunft des heiklen Staatsgastes ein paar Pflöcke einzuschlagen, war nicht zu übersehen: Man werde „wie immer über die Dinge reden, die da zu besprechen sind. Auch über unterschiedliche Ansichten“, sagte der deutsche Kanzler. „Auch das ist in dieser Frage ganz wichtig, dass da Klarheit herrscht.“
Gespräch, um weitere Eskalation in Nahost zu verhindern
Scholz hatte den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan nach dessen Wiederwahl im Mai zum Staatsbesuch nach Berlin geladen. Doch seit dem Überfall der Terrorgruppe Hamas auf Israel sind die ohnehin angespannten Beziehungen mit Deutschland noch problematischer geworden. Erdogan weigert sich, die palästinensische Hamas als Terrorgruppe anzusehen. Zwar verurteilte er den mörderischen Überfall auf Israel, die Hamas aber mag er als „Freiheitsbewegung“ einstufen. In Israel indes vermeint der türkische Präsident einen „Terrorstaat“ zu erkennen. Die Vorwürfe seien absurd, stellte Scholz vorab klar. Israel sei eine Demokratie. Schließlich ist Israels Sicherheit deutsche Staatsräson. Besser schon mal vorab Klarheiten schaffen.
Das tat Scholz kurz vor dem Treffen mit Erdogan am Freitagabend noch einmal. Deutschlands Bundeskanzler hob das Selbstverteidigungsrecht Israels explizit hervor. „Das Existenzrecht Israels ist für uns unumstößlich“, sagte Scholz vor Journalisten. Israel habe „das völkerrechtlich verbriefte Recht, sich zu verteidigen.“ An Erdogan gerichtet, sagte Scholz, es sei „kein Geheimnis“, dass „wir zu dem aktuellen Konflikt unterschiedliche, zum Teil sehr unterschiedliche Sichtweisen haben“.
Erdogan und er teilten aber die „Sorge vor einem Flächenbrand im Nahen Osten“, sagte Scholz bei der Pressekonferenz, die vor einem Gespräch und einem Abendessen der beiden Politiker stattfand. „Jedes Leben ist gleich viel wert“, fügte er an. Auch das „Leid der palästinensischen Zivilbevölkerung“ bedrücke die Bundesregierung. In dem Gespräch mit Erdogan solle es darum gehen, wie eine „weitere Eskalation in der Region“ verhindert werden könne.
Erdogan prangerte seinerseits im deutschen Bundeskanzleramt Israels Vorgehen im Gazastreifen an. Dort sei „alles dem Erdboden gleichgemacht worden“. Zwar spreche derzeit „jeder“ von der Hamas, aber die militärische Macht der radikalislamischen Palästinenserorganisation sei nicht vergleichbar mit jener Israels. Für eine Lösung des Konflikts im Nahen Osten erscheine eine „Zweistaatenlösung in den Grenzen von 1967“ nötig.
Erdogans Außenpolitik „verstörend und erratisch“
Erdogan wurde am Freitag von Scholz zum Abendessen empfangen. Danach gab es eine Pressekonferenz. Vergangenes Jahr hatte sich Scholz in einer ähnlichen Situation den größten Patzer seiner Amtszeit erlaubt. Mahmud Abbas, Chef der Palästinenserbehörde, durfte bei der Pressekonferenz im Kanzleramt ungestraft den Holocaust relativieren. Scholz‘ Sprecher brach die Runde überstürzt ab. So standen Abbas‘ Worte lange unwidersprochen im Raum, bis der Kanzler ihnen in einem Zeitungsinterview entgegentrat.
Auch der Empfang des türkischen Präsidenten wurde in Berlin schon seit Wochen als „herausfordernd“ betrachtet. Erdogans Außenpolitik sei „verstörend und erratisch“, befand etwa der frühere deutsche Botschafter Martin Erdmann. Erdogan sieht sich mehr und mehr in einer osmanischen Tradition. Schon den Bürgerkrieg in Syrien nutzte er, um seinen Einfluss in der Region auszudehnen. Nach Russlands Überfall auf die Ukraine bot er sich eilfertig als Vermittler an, nun strebt er mit seinen Äußerungen zu Israel, Hamas und Gaza weiter an seinem Bild als Schutzpatron der Muslime in der Levante. Es geht um imperiale Traditionen. Aber auch um sein Image zu Hause. Im kommenden Jahr sind in der Türkei Kommunalwahlen.
Scholz wollte mit seinem Gast aber nicht nur über Nahost reden, sondern auch über Migrationspolitik. Nach Angaben der EU-Asylagentur Easo fragten im September rund 57 Prozent der türkischen Geflüchteten in Deutschland um Asyl nach (Österreich: 15 Prozent). Entsprechend hofft Scholz daher, den Flüchtlingsdeal der EU mit der Türkei von März 2016 wiederbeleben zu können. Der Kanzler braucht angesichts des Höhenflugs der rechten AfD Erfolge in der Migrationspolitik, im kommenden Jahr sind drei wichtige Landtagswahlen in Deutschland. Die Türkei hofft im Gegenzug auf die Einhaltung längst versprochener Visa-Erleichterungen.
Özdemir kritisiert Erdogans langen Arm in Deutschland
Im Zentrum Berlins galt am Freitag die höchste Sicherheitsstufe, weil sich auch Gegner Erdogans angesagt hatten. Aber nicht nur auf der Straße gab es Unmut über den Staatsgast. Erdogan könne kein Partner für deutsche Politik sein, sagte Josef Schuster, der Präsident des Zentralrats der Juden in Deutschland. Auch aus der Ampel selbst kam Kritik. Der Vorsitzende des Auswärtigen Ausschusses, Michael Roth (SPD), nannte Erdogan einen „Antisemiten“. „Erdogan versteht nur eine klare Sprache. Und das ist Klartext“, sagte er am Freitag im Mittagsmagazin der ARD. Landwirtschaftsminister Cem Özdemir (Grüne) kritisierte den langen Arm des türkischen Präsidenten in Deutschland durch den Moscheeverein Ditib. Dem Verband gehören rund 900 muslimische Gemeinden in Deutschland an, er untersteht dem türkischen Staat. Deshalb warnte Özdemir: „Man muss wissen, wenn man Staatsverträge mit seinen Vertretern in Deutschland schließt, dann lässt man Erdogan in deutsche Schulen. Dann wird dieses Gift des Antisemitismus in Deutschland weiterverbreitet.“ Özdemir, der im schwäbischen Bad Urach als Kind türkischer Migranten aufgewachsen ist, verteidigte allerdings das Treffen. „Das Leben ist kein Ponyhof. Dazu gehört eben auch, dass man sich mit Zeitgenossen treffen muss, die sehr ungewöhnliche, skurrile, manchmal absurde Meinungen haben“, sagte er.
Rund 200.000 Zuwanderer mit Vorfahren aus der Türkei leben allein in Berlin. Hinzu kommen Migranten aus der arabischen Welt. Vor allem im Bezirk Neukölln war es nach dem Terrorüberfall der Hamas zu Sympathiekundgebungen gekommen. Erst am Donnerstag war es bundesweit zu Razzien gegen islamische Zentren gekommen.