In Argentinien hat die Stichwahl ums Präsidentenamt begonnen. In einem hat Javier Milei vermutlich Recht. Argentinien stehe „vor der wichtigsten Wahl in hundert Jahren“, sagte der ultrarechte Politiker bei der einzigen TV-Debatte, bei der er gegen seinen Kontrahenten, den amtierenden peronistischen Wirtschaftsminister Sergio Massa, antrat. Es war ein inhaltlich erbärmlich schlechtes Duell, in dem beide Politiker über zwei lange Stunden versuchten, den anderen als Lügner oder unzuverlässigen Exzentriker darzustellen. Inhaltlich gab es wenig Neues. Und so lässt die TV-Konfrontation nichts Gutes erwarten für die Zeit nach dem 10. Dezember, wenn einer der beiden die zweitgrößte Volkswirtschaft Lateinamerikas regieren wird.
Die Aufgaben sind gewaltig. Eine Inflation von beinahe 143 Prozent pro Jahr, 45 Prozent der Bevölkerung in Armut, eine desillusionierte Jugend, die zunehmend ihr Heil in der Auswanderung sucht, ansteigende Drogenkriminalität. Und ein Staat, der praktisch bankrott ist. Zudem ist das Land tief gespalten. Ein gutes Drittel steht fest zum Peronismus, jener hybriden Ideologie aus den 1940-er Jahren zwischen links, rechts und populistisch, die auf Argentiniens früheren Präsidenten Juan Domingo Perón zurückgeht. Ein anderes Drittel ist rechts oder verteufelt den Peronismus. Und eben ein Drittel, das sich längst von der Politik abgewendet hat oder im schrillen Newcomer Milei mit seinen verrückten Ideen denjenigen sieht, der das chronische Siechtum des so reichen Landes beenden kann.
Vor allem junge Menschen, die nichts als Krise kennen, wählen Milei. So wie Franco Carmonesi, ein 20-Jähriger aus einem Armenviertel, der abends als Parkplatzanweiser arbeitet und tagsüber Säfte in der Fußgängerzone im Zentrum von Buenos Aires verkauft: „Ich habe noch nie gewählt, aber jetzt wähle ich Milei, weil sich was ändern muss. Er ist verrückt, aber nur ein Verrückter kann das Land regieren. Die anderen Politiker haben entweder gestohlen oder Mist gebaut.“
Massa im ersten Wahlgang klar voran
Dennoch scheint der Ausgang der Stichwahl am Sonntag offen. In verschiedenen Umfragen führt mal der Peronist Massa, mal der libertäre ultrarechte Milei. Aber schon vor dem ersten Wahlgang am 22. Oktober irrten die Umfragen. Milei galt als klarer Sieger, dem sogar der Durchmarsch in der ersten Runde zugetraut wurde. Am Ende siegte Massa deutlich mit fast 37 zu 30 Prozent. Es wird aber auf jeden Fall ein Herzschlag-Finale mit großer Bedeutung für Argentinien.
Denn Massa (51) und Milei (53) vertreten nicht nur gegensätzliche Stile, sondern vor allem sehr unterschiedliche Visionen vom Weg, den Argentinien in diesem Jahrhundert eingeschlagen hat, und von den Schritten, die in den nächsten vier Jahren unternommen werden sollen. Der Mitte-rechts Peronist Massa setzt sich für die Beibehaltung eines starken, aber effizienteren Staates ein, Milei will diesen auf sein absolutes Minimum reduzieren, er will die Zentralbank abschaffen und den argentinischen Peso durch den Dollar ersetzen.
Er nennt die aktuelle Regierung „Verbrecher“. Sie hätten die Bevölkerung beraubt und das Land in die Misere geführt und müssten schlicht und ergreifend verschwinden. Er giftet gegen die „politische Kaste“ von rechts bis links, der er sich allerdings ungeniert nach seinem überraschend schlechten Abschneiden in der ersten Runde angenähert hat, um bei der Drittplatzierten Patricia Bullrich von der traditionellen Rechten um Stimmen zu werben. Zudem hat er sich von seinen rechten Vorbildern Donald Trump und Jair Bolsonaro abgeschaut, schon vor der Abstimmung vom Wahlboykott zu raunen.
Dennoch ist Mileis Politik dezidiert anti-politisch. Der frühere TV-Kommentar ist schrill, laut, vulgär und jähzornig, hat nervöse Aussetzer bei TV-Interviews, wenn ihn die Geräusche hinter den Kameras stören. Massa hingegen ist dialogorientiert, ein klassischer Politiker mit 30 Jahren Erfahrung. Und seinen Diskurs bestimmen die vorfabrizierten Politikersätze, denen die Menschen eigentlich so überdrüssig sind.
Massa hat sich von der scheidenden Regierung, der er als Wirtschaftsminister angehört, so weit wie möglich distanziert und versucht, die Stichwahl zu einer Abstimmung über „Für oder gegen Milei“ zu machen und so über die Frage, ob Argentinien demokratisch bleibe oder zu einem autoritären Staat in Händen eines unberechenbaren Ultrarechten wird.
Sowohl in der TV-Debatte als auch in seinen Wahlkampfspots betont er die verbale Gewalt seines Rivalen, der den Papst als „Vertreter des Bösen“ bezeichnet hat, der die Beziehungen zu Brasilien und China, Argentiniens wichtigsten Handelspartnern, abbrechen will und der vorschlägt, den Waffenmarkt zu deregulieren. Milei hingegen besteht darauf, dass Massa als zuständiger Ressortchef der Hauptverantwortliche für die Wirtschafts- und Sozialkrise ist. Recht haben beide.
Viele Argentinier glauben, dass es nicht schlimmer werden kann
Milei verkörpert all jene argentinischen Bürger, die es satt haben, mit ihrem Verdienst nicht über die Runden zu kommen - egal wie hart sie arbeiten. All jene, die einen Wandel wollen, um der Krise, der Korruption und der Kriminalität ein Ende zu setzen - wie auch immer. Es sind diese Millionen, die davon überzeugt sind, dass es sie und ihr Land auch mit Milei nicht schlimmer treffen könnte.
Mileis wirtschaftlichen Vorschläge – vor allem die Dollarisierung - wurden sowohl innerhalb als auch außerhalb des Landes als nicht realisierbar abgelehnt. Zuletzt warnten 108 Ökonomen, Akademiker und Intellektuelle aus aller Welt in einem offenen Brief vor den Gefahren, die Mileis Konzepte bedeuten. Insbesondere die Einführung der US-Währung als nationales Zahlungsmittel werde aufgrund des Mangels an Devisenreserven dazu führen, dass der anfängliche Umrechnungskurs „so hoch ist, dass er zu mehr Inflation führt.“ Die Folge wäre der Rückgang der Reallöhne. „Eine erhebliche Kürzung der öffentlichen Ausgaben würde zudem die bereits hohe Armut und Ungleichheit noch erhöhen und könnte zu erheblicher Zunahme sozialer Spannungen und Konflikte führen“, warnen die Experten.
Argentinien steht am Sonntag also vielleicht vor einer Zeitenwende. Und keiner der beiden Bewerber scheint dafür die ideale Führungsfigur zu sein. Das zeigte die einzige TV-Debatte ernüchternd klar. Der argentinische Schriftsteller Martín Caparrós fühlte sich zu dem bissigen Kommentar genötigt. „Jeder wollte den Zuschauern zeigen, dass der andere eine Katastrophe ist. Noch nie hatten zwei Präsidentschaftskandidaten so recht: Vielleicht könnte man unter diesen Umständen ein Unentschieden ausrufen und beide auf die Sandwich-Inseln schicken. Und für Argentinien eine bessere Lösung finden.“