Normalerweise ist eine Bar-Mizwa eine fröhliche Angelegenheit. Die Familie und Freunde kommen zusammen und feiern den Buben, der 13 Jahre alt und in dieser jüdischen Tradition offiziell in die Gemeinde aufgenommen wird. Doch dies sind keine normalen Zeiten in Israel, und die Bar-Mizwa von Ariel Zohar wird wohl die traurigste der Welt. Der Zwölfjährige ist der einzige Überlebende seiner Familie, die in ihrem Haus im Kibbuz Nahal Oz von Terroristen der Hamas am 7. Oktober massakriert wurde.
Ariels Eltern Yaniv und Yasmin, seine älteren Schwestern Tchelet und Keshet und der Großvater mütterlicherseits, Chaim Livne, wurden ermordet. Ariel überlebte nur, weil er am frühen Morgen joggen war. Vor weniger als einem Monat musste er das Totengebet Kaddisch für seine gesamte Familie sprechen.
Am Tag des Überfalls hatte Ariel Schüsse gehört und versuchte, zu seinem Haus zurückzukehren. Doch die Stimmen, die er hörte, deuteten auf eine tödliche Gefahr. Der Zwölfjährige rannte zum Haus des Sicherheitsbeauftragten, der ihn zusammen mit seiner eigenen Familie versteckte. Nur Stunden später wurde der Sicherheitsmann von den Terroristen erschossen. Seine Angehörigen und Ariel überlebten das schlimmste Massaker in der Geschichte Israels. Am Leben, doch für immer gezeichnet.
Nur wenige Minuten Zeit
Vor einigen Tagen erhielt der Leiter der Freiwilligen-Rettungsorganisation Zaka, Haim Otmazgin, einen Anruf. Zaka ist eine israelische Organisation, die die sterblichen Überreste von Opfern nach Unfällen oder Terroranschlägen entsprechend der jüdischen Tradition birgt und bestattet. Die Frau am Telefon war die Schwester von Yaniv Zohar, Ariels Tante. Unter Tränen erzählte sie Otmazgin vom Schicksal des Buben. In zwei Wochen sei seine Bar-Mizwa und dafür wünsche er sich nur eins: die Tefillin seines Vaters. Die seien von unschätzbarem Wert für Ariel, der hoffte, dass sie die Zerstörung und Plünderung im Haus überstanden hatten. Tefillin sind rituelle Gegenstände der jüdischen Religion, die Pergamente mit Texten aus der Tora enthalten. Diese Tefillin wurden Ariels Großvater väterlicherseits geschenkt, als er 13 Jahre alt war, ein Jahr bevor die Nazis seine Eltern ermordeten. Er selbst überlebte das Konzentrationslager, zog nach Israel und schenkte die Tefillin seinem Sohn Yaniv.
Otmazgin habe nach dem Telefonat nicht gezögert, sagte er. Wegen der anhaltenden Gefahr durch Raketen aus dem nahe gelegenen Gazastreifen hatten er und die begleitenden Soldaten für ihre Mission nur sechs Minuten Zeit. „Es war ein unerträglicher Anblick im Innern, alles voller Blut“, erinnert er sich. Während das Team im Haus war, dirigierte ihn Ariels Tante per Telefon dorthin, wo die Tefillin aufbewahrt wurden. Und tatsächlich: Da lag der samtene dunkelblaue Beutel mit dem wertvollen Inhalt – gänzlich unversehrt.
„Auch du wirst einen Enkel haben“
Am selben Abend fuhren Otmazgin und andere Helfer zum Haus der Großeltern väterlicherseits in Rischon Lezion, wo Ariel jetzt lebt. „Es war einer der emotionalsten und traurigsten Momente, den ich je erlebte.“ Wochenlang hätten er und seine Kollegen ohne Unterbrechung gearbeitet, „keine Zeit zum Fühlen, keine Zeit zum Weinen“. Doch in diesem Moment „standen wir vierzig Minuten einfach da und weinten wie kleine Kinder für und mit dem Buben, der seine wunderschöne Familie verloren hat“.
Der Großvater habe ihm unter Tränen erzählt, er sei sicher gewesen, dass das, was ihm im Holocaust geschah, nie wieder passieren würde. Und jetzt sei sein Enkel allein auf der Welt. „Sein Herz sei zerschmettert.“ Doch dann sei der 90-Jährige, der seinen Sohn, seine Schwiegertochter und zwei Enkelinnen verloren hatte, aufgestanden und habe zu Ariel gesagt: „Meine Eltern wurden ermordet, als ich 13 war. Ich habe Widerstand geleistet und habe heute einen Enkel, der in Israel lebt – dich! Auch dir haben sie das Grauen angetan, als du zwölf Jahre alt warst. Doch auch du wirst Widerstand leisten und Enkel in Israel haben.“