Straßenschlachten mit der Polizei, brennende Barrikaden, Aufmärsche rechtsradikaler Demonstranten, Schüsse auf einen konservativen Politiker: Die Regierungsbildung des spanischen Sozialdemokraten Pedro Sánchez, der mit Unterstützung der separatistischen Parteien aus dem Baskenland und Katalonien eine weitere Amtszeit anstrebt, wird seit Tagen von Unruhen und Gewalt in der Hauptstadt Madrid begleitet.
An diesem Freitag sicherte, wie erwartet, auch die baskische Nationalistenpartei PNV Sánchez ihre Stimmen im Parlament zu. Am Donnerstag hatte der katalanische Separatistenchef Carles Puigdemont grünes Licht gegeben. Ein Durchbruch nach wochenlangen geheimen Verhandlungen, die Spaniens seit 2018 amtierenden Sozialdemokraten vier weitere Jahre im Regierungspalast sichern sollen. Die konservative Opposition, die schon von einem Machtwechsel geträumt hatte, schäumt.
Die entscheidende Unterstützung für Sánchez kommt dabei ausgerechnet von Puigdemont – jenem Mann, der in den letzten Jahren als Staatsfeind von der spanischen Justiz gejagt wurde und sich nach Brüssel absetzte. Nachdem Spaniens Parlamentswahl im Juli mit einem Patt zwischen dem progressiven und dem konservativen Lager ausgegangen war, fiel Puigdemonts kleiner katalanischer Unabhängigkeitspartei im spanischen Parlament die Rolle des Königsmachers zu.
„Historische Chance“
Der sozialdemokratische Verhandlungsführer Santos Cerdán, Nummer drei der Partei, bestätigte nach einer langen Verhandlungsnacht in Brüssel den Pakt mit Puigdemont: „Das Abkommen ist eine historische Chance, um den Katalonien-Konflikt zu lösen, der nur auf politischem Weg beendet werden kann.“ Zum Pakt gehört die Vereinbarung eines Amnestiegesetzes für Puigdemont und dessen Weggefährten.
Schon in den nächsten Tagen will sich der 51 Jahre alte Sánchez vom Parlament als Premier bestätigen lassen. Mit den sieben Abgeordnetenstimmen von Puigdemonts Partei Junts per Catalunya (Zusammen für Katalonien) und den fünf Mandaten der baskischen PNV kann Sánchez im Parlament jetzt mit der Unterstützung von 178 Abgeordneten rechnen. Die absolute Mehrheit liegt bei 175 Stimmen.
Wie schon die vergangenen Jahre strebt Sánchez eine Minderheitsregierung an, die aus seiner sozialdemokratisch orientierten Sozialistischen Arbeiterpartei und dem linken Juniorpartner Sumar (Summieren) besteht und im Parlament von katalanischen sowie baskischen Regionalparteien gestützt wird.
Flucht nach Brüssel
Vor allem Ex-Katalonien-Präsident Puigdemont (60), der nach seinem illegalen Unabhängigkeitsreferendum in 2017 nach Brüssel floh, trieb den Preis für seine Stimmen extrem hoch. Er setzte bei Sánchez „die völlige Abkehr von der Verfolgung der Unabhängigkeitsbewegung“ durch. In anderen Worten: eine Generalamnestie, von der er persönlich profitieren wird. Aber auch Hunderte weitere separatistische Aktivisten, gegen die wegen der unerlaubten Abspaltungsabstimmung noch ermittelt wird, können damit aufatmen.
„Die Amnestie ist illegal, unmoralisch und antidemokratisch“, poltert der konservative Oppositionsführer Alberto Núñez Feijóo. „Der Rechtsstaat ist in Gefahr.“ Für den 62-jährigen Feijóo ist Sánchez‘ erwartete Wiederwahl ein persönliches Scheitern. Der Vorsitzende der Volkspartei hatte selbst versucht, eine Regierung zu bilden – zusammen mit der rechtsnationalen Partei Vox. Feijóo bekam jedoch im Parlament keine Mehrheit, weil sich die nach mehr Autonomie strebenden Basken und Katalanen weigerten, eine konservativ-nationalistische Regierung zu stützen.
Für Sánchez dürfte die neue Amtszeit allerdings alles andere als einfach werden. Auch weil die zugesagte Generalamnestie für Puigdemont und seine Gefolgsleute nicht nur die konservative Opposition auf die Barrikaden bringt, sondern auch in Sánchez‘ eigener sozialdemokratischer Partei umstritten ist: Umfragen zufolge hätte es rund ein Drittel der Sánchez-Wähler bevorzugt, in dieser kniffligen politischen Situation Neuwahlen anzusetzen.
Sánchez selbst hatte in seiner Wahlkampagne eine Amnestie noch ausgeschlossen. Doch dann vollzog er, wohl auch weil er die parlamentarische Unterstützung der Separatisten brauchte, eine Kehrtwende. Die Amnestie ist allerdings nicht das erste Zugeständnis an Katalonien: 2021 hatte Sánchez bereits neun in Haft sitzende Separatistenführer begnadigt.
Ist eine Amnestie verfassungskonform?
Seit Amtsantritt in 2018 versucht Sánchez, in Katalonien mit politischen Gesten „Wunden zu schließen“ und Spannungen abzubauen. Offenbar mit Erfolg: Nach Umfragen nimmt die Zahl der Unabhängigkeitsbefürworter in dieser eigenwilligen Region ab.
Eine andere Sache ist, ob eine Generalamnestie für Straftaten, die im Zuge der katalanischen Unabhängigkeitsaktivitäten begangenen wurden, rechtlich überhaupt möglich ist und durch die Verfassung gedeckt ist. Darüber streiten sich derzeit noch die Juristen beider politischer Lager. Diese Frage wird Spaniens Verfassungsgericht, das die konservative Opposition umgehend anrufen will, beantworten müssen. Doch eine höchstrichterliche Entscheidung kann Jahre auf sich warten lassen.
Carles Puigdemont, gegen den in Spanien wegen Ungehorsams und Veruntreuung öffentlicher Gelder für die Finanzierung illegaler Aktivitäten ermittelt wird, kann sich also bald wieder als freier Mann fühlen. Nach Inkrafttreten der Amnestie muss er nicht mehr in Spanien mit seiner Festnahme rechnen. Und er kann somit aus seinem Brüsseler Zufluchtsort, in dem er derzeit als Europaabgeordneter für seine Partei aktiv ist, wieder in seine katalanische Heimat zurückkehren.
Ralph Schulze, Madrid