Der deutsche Bundeskanzler Olaf Scholz hat antisemitische Vorfälle in Deutschland als eine Schande für Deutschland bezeichnet. „Mich empört und beschämt das zutiefst“, sagte der Kanzler am Donnerstag in einer Rede zum 85. Jahrestag der Reichspogromnacht in der Berliner Synagoge Beth Zion. Es gerate „etwas aus den Fugen“, wenn heute Gewalttaten der radikalislamischen Hamas gefeiert und jüdische Mitbürger bedroht würden.

Judenfeindlichkeit ist falsch, egal woher sie kommt

Jede Form von Antisemitismus vergifte die Gesellschaft, sagte Scholz. „Dabei darf es nicht darauf ankommen, ob Antisemitismus politisch motiviert ist oder religiös, ob er von links kommt oder von rechts, ob er sich als Kunst tarnt oder als wissenschaftlicher Diskurs, ob er seit Jahrhunderten hier gewachsen ist oder von außen ins Land gekommen“, betonte er. Das Versprechen „Nie wieder“ bedeute zuallererst den physischen Schutz von jüdischen Einrichtungen und Gemeinden und die konsequente Durchsetzung geltenden Rechts durch Polizei und Justiz. „Wer Terrorismus unterstützt, wer antisemitisch hetzt, den werden wir strafrechtlich verfolgen.“

Der deutsche Kanzler fügte hinzu, dass das angepeilte neue Staatsangehörigkeitsrecht klar regele, dass Antisemitismus einer Einbürgerung entgegensteht. „Wir dulden Antisemitismus nicht. Nirgendwo.“ Scholz warnte auch vor einem Generalverdacht gegen Muslime. „Zugleich dürfen wir denen nicht auf den Leim gehen, die jetzt ihre Chance wittern, über fünf Millionen muslimischen Bürgerinnen und Bürgern pauschal den Platz in unserer Gesellschaft abzusprechen.“ Alle, die in Deutschland lebten, müssten sich an der freiheitlich-demokratischen Grundordnung als Maßstab messen lassen. Man müsse Terror und Hass gemeinsam die Stirn bieten.

Zentralratspräsident Schuster: „Wollen in unserem Land frei leben“

Zentralratspräsident Josef Schuster würdigte, dass jüdisches Leben heute geschützt werde – anders als während der Gewaltwelle gegen Synagogen und jüdische Geschäfte vor 85 Jahren. „Aber wir wollen keine Schutzschilder“, erklärte er in seiner Rede. „Wir wollen frei leben in Deutschland, in unserem Land.“

Schuster äußerte sich entsetzt über antijüdische Anfeindungen und antiisraelische Demonstrationen in Deutschland seit dem Terrorangriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober: „Wer verstehen will, warum der Terroranschlag auf Israel in der jüdischen Gemeinschaft auch in Deutschland tiefe Traumata, Ängste und Verunsicherungen hervorruft, der muss sich bewusst sein, was auch 85 Jahre nach der Reichspogromnacht in den jüdischen Seelen vorgeht, wenn wieder Davidsterne an Häuser von Juden gemalt werden, wenn wieder jüdische Geschäfte attackiert werden.“

Er erinnerte an den versuchten Brandanschlag auf den Ort der Gedenkfeier, die Synagoge Beth Zion in Berlin-Mitte. Zwei Unbekannte hatten Mitte Oktober Brandsätze in Richtung des Gebäudes geworfen. Und er verurteilte, dass auf deutschen Straßen die Vernichtung Israels und die Auslöschung aller Juden gefordert worden seien. „Es ist der Versuch, gezielt diese Ängste zu erzeugen“, erklärte Schuster. „Auch um das zu verstehen, ist die Erinnerung und das Gedenken an den 9. November 1938 so wichtig.“

Verstörend sei auch der Angriff einer wütenden Menge auf ein vermeintlich mit Juden besetztes Flugzeug in der russischen Republik Dagestan gewesen. Wäre eine solche Jagd auf Juden auch in Deutschland möglich? „Vor fünf Wochen hätte ich Ihnen noch gesagt, dass ich mir das nicht vorstellen kann, heute bin ich mir dabei nicht mehr so sicher“, erklärte Schuster. „Schutz kann nie absolut sein, bei allen Bemühungen.“

„Parallele in der Geisteshaltung“ von Islamisten und Rechtsradikalen

Schuster verwies auf „eine Parallele in der Geisteshaltung“ bei Islamisten und Rechtsextremen und geißelte auch die Verachtung für Lehren aus der Geschichte, die er bei linksextremen und linken Kreisen spüre. Hinter vorgehaltener Hand sei Antisemitismus bis in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen.

„Es ist etwas aus den Fugen geraten in diesem Land“, erklärte der Zentralratspräsident. „Es ist noch die Gelegenheit, dies zu reparieren, doch dafür muss man sich auch eingestehen, was in den letzten Jahren schiefgelaufen ist, was man nicht hat sehen können oder wollen.“

Wegen der stark gestiegenen Zahl von antisemitischen Vorfällen in Deutschland seit dem Terrorangriff der Hamas in Israel kommt dem Jahrestag in diesem Jahr besondere Bedeutung zu. Viele Jüdinnen und Juden berichten vom Gefühl der Bedrängnis und von Ängsten, ihren Glauben in Deutschland offen zu zeigen. Schutzvorkehrungen wurden nochmals verstärkt.

Gedenkveranstaltung unter starken Sicherheitsmaßnahmen

Die Gedenkveranstaltungen in der Synagoge im Zentrum Berlins fand unter massiven Sicherheitsvorkehrungen statt. Am Ort der Gedenkfeier waren am Donnerstag Straßen abgesperrt, die Polizei war mit Scharfschützen und gepanzerten Wagen an der Synagoge.

1938 hatten die Nationalsozialisten in der Nacht vom 9. auf den 10. November landesweit eine Gewaltwelle gegen Juden begonnen. In der Folge wurden nach Angaben des Deutschen Historischen Museums mehr als 1300 Menschen getötet, 1400 Synagogen zerstört und beschädigt, 7000 Geschäfte überfallen und 30.000 Juden in Konzentrationslager verschleppt. Es war der Beginn der systematischen Vernichtung der Juden in Deutschland und Europa durch die Nationalsozialisten.