Ivan, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen will, weiß nicht so recht, wo er anfangen soll. Zu viel ist in den letzten 20 Monaten passiert. Eigentlich sollte Ivan nicht hier sein, nicht in Österreich, nicht in der Steiermark. Der junge Mann Mitte 20 stammt aus einer größeren Stadt in der Ostukraine. Seit Kriegsausbruch ist es Männern im wehrfähigen Alter zwischen 18 und 60 verboten, das Land zu verlassen. Ausnahmen gibt es wenige. Ivan ist dennoch gegangen.
Wehrfähigen Männern ist die Ausreise verboten
Einen Monat nachdem Putins Bomben begonnen haben in der Ukraine einzuschlagen und das Sterben, auch das von Zivilisten, auf den Straßen zur Normalität wurde, floh Ivan aus seinem Heimatland. Nur wenige Tage zuvor krachte eine russische Rakete in das Wohnhaus seiner Großeltern, glücklicherweise blieben die Bewohner unverletzt. Andere hatten weniger Glück: Rund 70.000 ukrainische Soldaten sollen laut Schätzungen der USA bereits gefallen sein.
Ausgerechnet über Russland hat Ivan die Ukraine verlassen. Über die Fluchtdetails will er nicht viel erzählen: „Es war sehr gefährlich, ich hatte Todesangst.“ Die Flucht aus der Ukraine ist von vielen Risiken begleitet. Neben der ständigen Gefahr, von Kriegshandlungen betroffen zu sein, geht auch die ukrainische Justiz gegen Flüchtlinge vor. Just einen Tag vor dem Kriegsausbruch ordnete der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj eine Mobilmachung aller 250.000 Reservisten zwischen 18 und 60 Jahren an. Keine 24 Stunden später verkündete Selenskyj eine Generalmobilmachung – aller Männer, unabhängig von ihrer militärischen Vorerfahrung. Wer trotz eines Einberufungsbefehls flieht und dabei entdeckt wird, muss an die Front. Mittlerweile setzt die Ukraine auch Drohnen ein, um Deserteure aufzuspüren. Laut Zahlen der BBC sollen insgesamt 20.000 Männer bisher erfolgreich vom Kriegsdienst geflohen sein, ebenso viele wurden jedoch geschnappt. Russland hingegen erschießt Deserteure ausnahmslos. 14.000 Ukrainer im wehrpflichtigen Alter befinden sich derzeit in Österreich. Nicht alle sind Deserteure. „Uns sind die Wehrdienstkriterien der Ukraine nicht im Detail bekannt“, heißt es aus dem Innenministerium. Vom Ausreiseverbot ausgenommen sind alleinerziehende Väter, Väter mit drei oder mehr Kindern sowie Menschen mit Behinderungen.
Wieso Ivan nicht wie Tausende andere Männer in seinem Alter an der Front steht? „Mein Werkzeug ist mein Musikinstrument, nicht das Maschinengewehr“, sagt Ivan, der hofft, eines Tages als Künstler sein Geld zu verdienen und damit die ukrainische Kultur in die Welt zu bringen. Das Militär wäre auch vor dem Krieg für ihn nie eine Option gewesen. Als der Krieg ausbrach, war für ihn klar: „Auf dem Schlachtfeld hat jemand wie ich keine Chance.“ Den Abwehrwillen seiner Landsleute kann er nicht hoch genug loben. Es sei jedoch ein Wahnsinn, dass dieser notwendig sei. Schuldgefühle, dass er nun in Freiheit lebt, während Gleichaltrige, die nicht geflohen sind, im Krieg fallen, hat er nicht.
Ivan will nicht in die Ukraine zurückkehren
Wie lange es noch notwendig ist, dass junge Männer in der Ukraine sterben oder ihr Heimatland verlassen müssen, weiß auch Ivan nicht. „Vermutlich noch zwei bis drei Jahre. Wenn der Westen genug Waffen liefert, könnte die Ukraine aber den Krieg schneller gewinnen – das ist zumindest das, was ich von den ukrainischen Nachrichten mitbekomme“, sagt er. Dass ausgerechnet er als selbst ernannter Pazifist für mehr Waffenlieferungen eintrete, sieht er nicht als Widerspruch. „Nur weil ich nicht mit Waffen umgehen kann, heißt das nicht, dass es nicht genug Leute in der Ukraine gibt, die mit ihnen den Krieg gewinnen könnten.“
Seine Großmutter ist in der Ukraine geblieben. Mit über 70 wollte sie trotz des Krieges kein neues Leben mehr in einem anderen Land beginnen. Sie und Ivan telefonieren täglich. Dann sprechen sie über Musik, Kultur und natürlich auch den Frontverlauf. In die Ukraine zurückkehren will Ivan nie mehr. In Mitteleuropa – Österreich oder Deutschland – will er sich nun ein Leben in Sicherheit aufbauen. Weit weg von den Bomben des „Dämons“, wie Ivan Putin nennt.