"Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kommt aber darauf an, sie zu verändern." Dieses Zitat von Karl Marx prangt in goldenen Lettern in der Eingangshalle der Humboldt-Universität in Berlin. Es mutet heute ironisch an, dass der Spruch 1953 angebracht wurde, das Jahr, in dem Stalin im März verstorben war und in dem am 17. Juni die Menschen in Berlin-Ost tatsächlich den verzweifelten Versuch unternahmen, die Welt wieder zu verändern. (Hintergrund zum 17. Juni) Bert Brecht, der ambivalente Anhänger der Kommunisten, unterstützte die SED, aber nach der politischen Schelte an den Bauarbeitern schrieb er die berühmten Gedichtzeilen: "Nach dem Aufstand des 17. Juni ließ der Sekretär des Schriftstellerverbandes in der Stalinallee Flugblätter verteilen, auf denen zu lesen war, dass das Volk das Vertrauen der Regierung verscherzt habe und es nur durch verdoppelte Arbeit zurückerobern könne. Wäre es da nicht einfacher, die Regierung löste das Volk auf und wählte ein anderes?"
Wäre Marx ausschließlich ein Philosoph, der Hegels Idealismus dem historischen Materialismus gegenübergestellt und wäre Friedrich Engels ausschließlich ein Sozialhistoriker, der eindringlich und ergreifend das Elend der englischen Arbeiter dargestellt hätte, so wären die Gründerväter des Marxismus heute Teil der Geistesgeschichte unseres Kontinents. Ihr Anspruch ging aber weiter: Sie wollten aktiv an einer politischen Veränderung mitwirken, die den noch weitgehend rechtlosen Menschen in den Fabriken und auf den Feldern zu einem gerechten Anteil an politischer Mitsprache und an Wohlergehen zukommen lassen sollte. Nicht national verengt, sondern international vereint, wie es Lieder und später die Symbolik des 1. Mai ausdrücken.
Marx selbst sah eine ideale Gesellschaft, die er in seiner Deutschen Ideologie beschreibt, diametral anders als die meisten später errichteten Realitäten. Ihm ging es darum, jedem zu ermöglichen, "heute dies, morgen jenes zu tun, morgens zu jagen, nachmittags zu fischen, abends Viehzucht betreiben, nach dem Essen zu kritisieren, wie ich gerade Lust habe, ohne je Jäger, Fischer, Hirt oder Kritiker zu werden". Er war ein Lebemann, Genussmensch, durchaus auf Kosten seines Partners Engels, und persönliche Selbstverwirklichung konnte er einer kollektiv verordneten Norm nicht unterwerfen. Aber er war auch der Pate der entstehenden Arbeiter-Massenparteien.
Verschiedene Rahmenbedingungen der Arbeiterbewegungen
Dabei hatte er die unterschiedlichen Rahmenbedingungen in den einzelnen Staaten in ihrer Wirkung unterschätzt. Im bereits hochentwickelten England waren die Gewerkschaften älter und stärker als die Arbeiterpartei und blieben daher dominant. In Deutschland und der Habsburgermonarchie waren Partei und Gewerkschaft etwa zeitgleich entstanden, sie waren, wie es Victor Adler ausdrückte, "siamesische Zwillinge", die neue Massenbewegung konnte daher um politische Mitbestimmung wie das Wahlrecht kämpfen und auf dem Boden einer Verfassung einen demokratischen Weg einschlagen. In Russland mit einem damaligen Alphabetisierungsgrad von weniger als 20 Prozent verstand sich eine kleine "Avantgarde" aus Exilanten und politisch Verfolgten als Gruppe, die die gesellschaftliche Veränderung putschartig und von oben zu bewerkstelligen hatte. Internationalität hatte wenig Platz.
Der Vorabend des Ersten Weltkriegs und die unmittelbar vor dessen Ausbruch erfolgte Ermordung des zentralen Hoffnungsträgers einer geeinten Friedensbewegung, des Franzosen Jean Jaurès, ließ die Gräben entscheidend aufbrechen. Die Spaltung der deutschen Arbeiterbewegung über die Frage der Kriegskredite und schließlich die Oktoberrevolution hatten die Gemeinsamkeiten zerstört. Stalins Terrorregime mit seinen unzähligen Opfern stand im diametralen Gegensatz zu den durch die Arbeiterbewegung nachgeholten bürgerlichen Revolutionen im Westen Europas.
Säulenheilige der Kämpfe des 20. Jahrhunderts
Im Zweiten Weltkrieg bot zwar der antifaschistische Widerstand Möglichkeiten des gemeinsamen Handels, und der große Opferanteil der Kommunistinnen und Kommunisten legitimierte die Bewegung bei Kriegsende zumindest teilweise. Aber der Stalinismus ging weiter und in China eroberte Mao die Macht. Korea wurde geteilt und im Norden etablierte sich eine bizarre Erbdiktatur. Sie berief sich ebenso auf Marx wie viele im antiimperialistischen Befreiungskampf, von Che Guevara bis Ho Chi Minh oder Salvador Allende. Marx und Engels waren zu Säulenheiligen unterschiedlichster Strömungen geworden.
Austromarxismus und "der liebe Genosse Stalin"
Aber auch im demokratischen Österreich galt Marx als Leitfigur. Der Austromarxismus verstand sich als legitime Weiterführung seiner Ideen unter den Bedingungen einer Demokratie. Auch nach 1945 lebte dies weiter. Sogar Karl Renner hatte den "lieben Genossen Stalin" listig an die gemeinsamen Wurzeln erinnert. Die Sozialdemokratie war aber zeitgleich das entschiedenste Bollwerk gegen den Kommunismus. Die Sowjetunion sah etwa in der Arbeiter-Zeitung ihren größten Feind in Österreich. Die USA unterstützten diese Politik. Dennoch: Zumindest bis Bruno Kreisky waren die führenden Sozialdemokraten marxistisch geschult.
Vielfalt politischer Realitäten, die sich auf Marx beriefen
Für die akademische Jugend schien der Marxismus in den sechziger Jahren durchaus attraktiv. Er war ja an Universitäten wie etwa Frankfurt gut etabliert, und meine Generation verbrachte mehr Zeit in politischen Diskussionen als im Hörsaal. In Marx-Arbeitskreisen war man rasch gespalten in Trotzkisten, Maoisten, Anhänger Gramscis und viele Gruppierungen mehr. Das spiegelte die Vielfalt politischer Realitäten, die sich auf Marx beriefen. Die Zerschlagung des Prager Frühlings ließ allerdings keinen Boden für Stalinisten, und nur die zahlenmäßig bescheidene, materiell aber bestens gestellte KPÖ hielt am Modell der Sowjetunion fest. Mit der Implosion des Sowjetimperiums fiel auch dieser Rückhalt weg. Bruno Kreisky bot schließlich vielen, die damals politisch sozialisiert wurden, die Mitarbeit an seinen Projekten an. Man machte sich auf den "langen Marsch durch die Institutionen", um am Ende zu sehen, dass man sich selbst deutlich mehr verändert hatte als die Institutionen selbst.
Dennoch, seinen Marx studiert zu haben und in den Auseinandersetzungen um seine Texte argumentative Schärfe gelernt zu haben, ist nicht als Verirrung abzutun. Vieles war zu mechanistisch, was wir bei Marx sehen konnten, aber dass die Schwächsten der Gesellschaft nicht "mehr zu verlieren haben als ihre Ketten, aber eine Welt zu gewinnen" ist auch heute nicht falsch. Gesellschaftliche Ungleichheiten nicht national verengt zu sehen, wohl ebenfalls nicht.
"Marxist ist kein Schimpfwort"
Mit dem Blick auf die Ungeheuerlichkeiten, die historisch unter Berufung auf Marx geschehen sind, kann man aber viele der Spielarten, die sich auf Marx berufen, heute ganz sicher nicht mehr verteidigen. Da sind scharfe Abgrenzungen notwendig. Das täte auch Protestparteien in unserem Lande gut. Aber "Marxist" zu sein, also global zu denken und auf der Seite der Schwachen zu stehen, scheint mir, bei allen Irrtümern, die man Marx vorwerfen kann, kein Schimpfwort zu sein.
Helmut Konrad