Zum dritten Mal seit dem denkwürdigen Jahr 1986 – damals putschten Jörg Haider und seine jungen Prätorianer auf dem Innsbrucker Parteitag der FPÖ die Führung der Honoratioren- und Altnazipartei weg, was zum vorzeitigen Ende der SPÖ-FPÖ-Koalition unter Fred Sinowatz führte – ist die FPÖ drauf und dran, stärkste Partei im Land zu werden. 1999 führte Jörg Haider die freiheitlichen Sturmtruppen an, 2017 war es Heinz-Christian Strache, 2023 steht Herbert Kickl an der Spitze der FPÖ. Er will, wenn die FPÖ diese Welle bis zum regulären Wahltermin im Herbst 2024 reiten kann, der "Volkskanzler" werden, der die lange Reihe der Herrschaft der "Systemkanzler" in Österreich beendet.
Die Gründe für den freiheitlichen Erfolg haben sich in den fast vier Jahrzehnten seit dem Innsbrucker Parteitag nicht geändert: Immer dann, wenn sich der österreichische Filz aus großer Koalition und Sozialpartnerschaft mit dem öffentlich-rechtlichen De-facto-Medienmonopol zusammentat, um Österreich vor dem wiederkehrenden "Faschismus" zu beschützen, ging es den "Faschisten" besonders gut. Man muss kein Doktorat in Massenpsychologie haben, um zu wissen, dass eine Partei, der man das Oppositionsmonopol überlässt, gegen den Erfolg so gut wie wehrlos ist. Man nennt das "Reaktanz". In den Neunzigerjahren war es der österreichische Filz aus großkoalitionärem Proporz und sozialpartnerschaftlicher Über- oder Nebenregierung, 2017 das "Wir schaffen das"-Mantra des Flüchtlingsjahres 2015, und 2023 ist es, auch wenn es ein Teil der professionellen Politikbeobachter noch nicht wahrhaben will, das Volksfront-Pandemieregime aus Regierung, Opposition und Medien.
Politisch-gesellschaftliches Entlastungsgerinne
Sobald in einer Frage der Strom der politischen Meinungsbildung von der Mehrheit der Akteure in einen engen Kanal gezwängt wird, kommt der Partei, der man das Oppositionsmonopol überlassen hat, die Funktion eines politisch-gesellschaftlichen Entlastungsgerinnes zu, in das sich alles ergießt, was im vorgegebenen Meinungskanal keinen Platz findet. Das ist die sehr simple Mechanik des FPÖ-Erfolges von Beginn an, und die angstlustgesteuerten "Wehret den Anfängen"-Kampagnen der politischen Gegner der Freiheitlichen dienen nicht zuletzt der Verschleierung dieses einfachen Faktums.
Die Person an der Spitze der mit dem Monopol ausgestatteten Oppositionspartei ist zwar nicht bedeutungslos, aber auch nicht wirklich entscheidend. Das wird einem spätestens dann klar, wenn man sich den Unterschied zwischen Jörg Haider und Heinz-Christian Strache vergegenwärtigt. Herbert Kickl erscheint den angstvollen Beobachtern des politischen Geschehens viel gefährlicher als sein Vorgänger Heinz-Christian Strache, als dessen politische Hirnprothese er jahrelang fungiert hat, und zwar vollkommen zu Recht. Denn Kickl vereinigt das nahezu primitive Machtstreben des gefallenen Vizekanzlers Strache mit der intellektuellen Verspieltheit des rechtspopulistischen Gründervaters Haider. Kickl ist dazu in der Lage, jedem Publikum die Seite zuzuwenden, die es sehen will, Strache war eine zweidimensionale Veranstaltung: What you saw is what you got.
Treppenwitz der Ideengeschichte
Auch das kann man am für den gegenwärtigen Erfolg der FPÖ entscheidenden Thema der Pandemiebekämpfung am deutlichsten ablesen: Dass Herbert Kickl zum Anwalt der Freiheit, zum Beschützer der Bürger vor einem repressiven Staat werden könnte, wäre noch vor drei Jahren von so gut wie allen Beobachtern als Treppenwitz der Ideengeschichte interpretiert worden, und zwar von Freund und Feind gleichermaßen. Kickl war damals Innenminister der ÖVP-FPÖ-Koalition, und er war, ebenfalls für Freund und Feind gleichermaßen und überdies vollkommen zutreffend, die fleischgewordene Bereitschaft zur Repression.
Viele fragen sich heute, wie sich Kickl als Innenminister in Coronazeiten verhalten hätte. Man wird es nie erfahren, aber man kann sich schwer vorstellen, dass er die Chance ausgelassen hätte, seinen Polizeiapparat als schärfste Waffe gegen die virale Bedrohung der Volksgesundheit zu positionieren. Warum? Weil Herbert Kickl immer das getan hat, was notwendig war. Notwendig wofür? Notwendig für den Marsch der FPÖ durch die Institutionen bis an die Spitze der demokratischen Machtpyramide. Dort sieht er sich als "Volkskanzler", der seinen Erfolg ausschließlich der Tatsache verdankt, dass ihm seine politischen Gegner erlaubt haben, sich als Gegenmodell zu einer Elite zu positionieren, deren Teil er seit Jahrzehnten ist.
Im Dienst der Idee der Macht
Man sagt, es gebe in der Politik nur zwei Arten von Menschen, von denen die eine an die Macht der Ideen glaubt und die andere an die Idee der Macht. Kickl stellt die Macht der Ideen in den Dienst der Idee der Macht, so wie es Jörg Haider getan hat, dem Kickl viel näher ist als Strache. An Kickls Wandlung vom Hintergrundrumpelstilzchen zum Bierzeltfrontmann ist inhaltlich überhaupt nichts überraschend – die Charakterisierung des französischen Präsidenten Jacques Chirac als "Westentaschennapoleon", mit der Jörg Haider zur Zeit der EU-Sanktionen gegen Österreich die Welt empörte, stammte aus Kickls Feder –, aber habituell alles. Wie kam es dazu, dass Herbert Kickl, der das Bühnenlicht immer gescheut hat, plötzlich auf die Bühne drängte?
Es spricht viel dafür, dass dafür das Gefühl verantwortlich ist, das im Lauf der Menschheitsgeschichte für viele Aufstiege und zahlreiche Katastrophen verantwortlich war: Rache. Man darf nicht vergessen, dass Herbert Kickl im Schlussakt der ÖVP-FPÖ-Regierung nach der Veröffentlichung des "Ibiza-Videos" eine Hauptrolle spielte: Die FPÖ wollte die Koalition nach dem Rücktritt Straches fortsetzen, diese Fortsetzung war nach Aussage Kickls auch bereits vereinbart worden, aber dann stellte Sebastian Kurz, dem wohl gedämmert war, dass ihm in Kickl ein viel stärkerer Gegenspieler erwachsen würde, als es Strache jemals gewesen war, eine zusätzliche Bedingung, nämlich den Rücktritt Kickls als Innenminister – mit einer ziemlich fadenscheinigen Begründung. Der Bundespräsident, für fadenscheinige Begründungen im Namen des Guten, Wahren und Schönen immer empfänglich, entließ Herbert Kickl als ersten Minister der Zweiten Republik aus dem Amt. Herbert Kickl wird das niemals vergessen.
Bonus des Märtyrers
Die Kränkung, der Wunsch nach Rache und der Bonus des Märtyrers trieben Herbert Kickl endgültig auf die große Bühne. Er füllte mit seinen Polemiken gegen Sebastian Kurz die Bierzelte, leistete damit einen wesentlichen Beitrag zur Verhinderung des Totalabsturzes der FPÖ nach dem Ibiza-Skandal, und erreichte mit mehr als 75.000 Vorzugsstimmen ein besseres Ergebnis als Heinz-Christian Strache im Wahlkampf davor. Als Klubobmann im Parlament war er ab sofort der eigentliche starke Mann in der FPÖ, er stellte Parteichef Norbert Hofer von Beginn an in den Schatten und bald auch ins Abseits.
Nun ist Herbert Kickl also auf dem Sprung zum "Volkskanzler" (der letzte, der diesen Begriff offensiv verwendete, war übrigens Alfred Gusenbauer, was auf eine besondere Spielart des österreichischen Orbánismus schließen lässt), die Formierung einer breiten Front zur Verhinderung seines Aufstiegs an die Spitze zum Zwecke der Rettung der parlamentarischen Demokratie vor dem Zugriff des Autoritären nimmt immer schneller Fahrt auf. Es könnte nicht besser laufen für Herbert Kickl, der immer nur das getan hat, was nötig war.
Michael Fleischhacker