Was macht ein Grätzel zur Problemgegend? Darüber gibt es in Österreich höchst unterschiedliche Ansichten. Der Wiener ÖVP-Chef Karl Mahrer sorgt sich um "No-go-Zonen" in Wien und erklärte, auf dem Brunnenmarkt hätten "Syrer, Afghanen, Araber die Macht übernommen".
Andere, wie Energieministerin Leonore Gewessler (Grüne) teilen den Eindruck nicht: "Ich wohn' im 16. Bezirk und ich kenn' den Brunnenmarkt sehr gut", sagte Gewessler auf Puls 4. "Ich seh dort erfolgreiche Unternehmerinnen und Unternehmer, die hart arbeiten, früh aufstehen und schauen, dass sie uns mit Lebensmitteln versorgen. Ich bin sehr gern dort in der Gegend."
Sozialdemokraten setzen Ghettogesetz um
In Dänemark wäre die Beschreibung des Brunnenmarkts womöglich eine Geschmacks-, nicht aber eine Definitionsfrage. Dort schreibt ein Gesetz fest, was eine Problemgegend ist. Seit 2018 ist im sogenannten "Ghettogesetz" festgeschrieben, welche Kriterien ein Wohnviertel zum Problemviertel machen – und das hat weitreichende Konsequenzen. Das Gesetz wurde zwar von der konservativen Vorgängerregierung verabschiedet, doch die sozialdemokratische Premierministerin Mette Frederiksen hält daran fest. Bis 2030, so das erklärte Ziel, soll es in Dänemark keine Ghettos mehr geben.
Das dänische Gesetz unterscheidet zwischen Einwandern aus der EU, den USA, Kanada, Australien und Neuseeland und Zuwanderern aus "nichtwestlichen Ländern". Nur diese werden als problematisch eingestuft. Zum Ghetto wird eine Gegend mit mindestens 1000 Einwohnern, wenn mehr als ein Drittel von ihnen Einwanderer oder Kinder von Einwanderern aus nichtwestlichen Ländern sind – diese Quote wurde von der sozialdemokratischen Regierung sogar nach untern verschoben.
Zusätzlich müssen mindestens zwei weitere Kriterien erfüllt sein: Die Arbeitslosenquote liegt über 40 Prozent, mehr als zwei Drittel der Erwachsenen haben höchstens einen Hauptschulabschluss, das Durchschnittseinkommen ist halb so hoch wie im Rest der Bevölkerung oder die Kriminalitätsrate dreimal so hoch wie der nationale Durchschnitt.
Jeden Dezember wird die "Ghettoliste" veröffentlicht. Steht ein Grätzel drauf, hat das weitreichende Konsequenzen:
- Der Anteil von Sozialwohnungen wird reduziert. Wohnhaushäuser werden verkauft oder sogar abgerissen. Ihre Bewohner bekommen eine Ersatzwohnung in einer anderen Gegend zugewiesen, in die sie umziehen müssen. Sie haben kein Mitspracherecht bei der Auswahl der Wohnung. Dafür gibt es Umzugshilfe.
- Wird in einer "Parallelgesellschaftsgegend", wie die "Ghettos" seit 2021 offiziell heißen, ein Gesetzesbruch begangen, ist das Strafmaß dafür doppelt so hoch wie im Rest des Landes.
- Die Polizeipräsenz wird erhöht.
- Ab dem ersten Geburtstag müssen alle Kinder über einem Jahr in einen Kindergarten gehen, um die dänische Sprache und Werte vermittelt bekommen. Sonst wird den Eltern die Familienbeihilfe gestrichen.
Betroffene Bewohner und Menschenrechtsexperten kritisieren die "Ghettogesetze" seit der ersten Stunde als rassistisch und diskriminierend. Etliche Klagen wurden dagegen eingebracht, auch der Europäische Gerichtshof beschäftigt sich damit.
Die dänische Regierung bewertet die Entwicklung allerdings als positiv: Bisher wurden jedes Jahr Gebiete von der Liste gestrichen. Bis 2030, so der Plan der Regierung, soll es keine Ghettos mehr geben, weil die Wohnviertel in ganz Dänemark besser durchmischt sind.
Für die ÖVP wird Dänemark gerne als Vorbild herangezogen: Bundeskanzler Karl Nehammer lobte nach seinem Kopenhagen-Besuch am Freitag die dortige Vorgangsweise gegen irreguläre Migration und will Anleihe nehmen am dänischen Modell, die volle Sozialhilfe erst nach mehrjährigem Aufenthalt im Land auszuzahlen. Integrationsmaßnahmen waren kein Schwerpunkt seines Besuchs.
Allerdings plant Integrationsministerin Susanne Raab im Mai eine Reise nach Dänemark. Auch der Wiener ÖVP-Chef, Karl Mahrer, war unmittelbar bevor er sein Video über den Brunnenmarkt veröffentlichte, auf Lokalaugenschein in Skandinavien – allerdings in Schweden, wo es keine "Ghettogesetze" gibt. Aus der Stadt Malmö, die nur eine Brücke über den Öresund vom dänischen Kopenhagen entfernt liegt, kam er mit der Erkenntnis zurück: "Wien darf nicht Malmö werden."
Veronika Dolna