Karl Nehammer hatte wahrlich keinen leichten Start als ÖVP-Chef und Bundeskanzler: Mitten in der Coronakrise übernahm der gebürtige Wiener eine durch Korruptionsvorwürfe tief geschädigte Volkspartei – und durfte als Kanzler Österreich aus den Wirren der Pandemie in jene von Krieg und Teuerung führen. Für die Krisenbewältigung nimmt Österreich unter dem früheren ÖVP-Generalsekretär viel Geld in die Hand, in der Frage der Migration ist man auch gegenüber den europäischen Partnern um Härte bemüht.

Dass er auch abseits der Krisen eine Vision für das Land hat, wollte Nehammer heute in einer "Rede zur Zukunft der Nation" beweisen. Der Kanzler sprach dabei als ÖVP-Chef: Organisiert wurde die gesamte Veranstaltung von der Volkspartei, auch im Publikum fanden sich vor allem türkise Politikerinnen und Politiker.

Nehammer ließ sich von ÖVP-Granden wie Nationalratspräsident Sobotka und Klubchef Wöginger feiern
Nehammer ließ sich von ÖVP-Granden wie Nationalratspräsident Sobotka und Klubchef Wöginger feiern © (c) APA/ROLAND SCHLAGER (ROLAND SCHLAGER)

Krisen zum Start

Der Beginn der Rede stand im Zeichen der jüngsten Herausforderungen: "Pandemie und Krise haben gezeigt, dass das Unmögliche möglich geworden ist", sagte Nehammer. Die Menschen hätten Angst vor Infektion und Inflation, vor Krieg und Energiemangel, doch: "Wir haben in der Krise gezeigt, dass wir das Unmögliche möglich gemacht haben". Bei der Bewältigung der Pandemie dankte Nehammer der Wissenschaft, die durch Impfung und Medikamente einen Ausweg aufgezeigt hätten.

Der Krieg in der Ukraine sei aber eine andere Kategorie: "Wir sind solidarisch an der Seite der Menschen an der Ukraine, aber wir sind gleichzeitig die, die sich immer für den Frieden einsetzen", sagte Nehammer. Obwohl es derzeit nicht nach baldigem Frieden aussehe, dürfe Österreich nicht ruhen, "auf der einen Seite Solidarität zu zeigen und uns auf der anderen Seite für Frieden einzusetzen".

Auch in der Energiekrise zeige sich: "Wir sind in der Lage, das Unmögliche möglich zu machen". Es sei gelungen, auch diese Krise zu meistern, sagte Nehammer mit Verweis auf die im Vergleich zum Vorjahr deutlich stärker gefüllten Gasspeicher. Dennoch müsse man jenen, die unter der Teuerung leiden, weiter unter die Arme greifen, erklärte der Kanzler. Gleichzeitig forderte Nehammer einen Versorgungsauftrag für Gaslieferanten. Es könne nicht sein, dass "Risiko verstaatlicht und Gewinne privatisiert werden".

Wo der Kanzler Fehler findet

Mit Blick auf die Zukunft und mit den Erfahrungen von Auslandsreisen sagte Nehammer: "Österreich ist ein gutes Land" - weil es von den Menschen im Land getragen werde. Die Krisen würden aber schonungslos "die Schwächen in unserem System" aufzeigen, erklärte Nehammer etwa mit Blick auf den Ärzte- und Pflegemangel: "Während ich als Bundeskanzler eben daran arbeite, diese Aufgaben und Krisen zu lösen, zu managen, sind mir einige Punkte aufgefallen, wo ich sagen muss: Da läuft auch etwas falsch in unserem Staate".

Neben der militärischen Landesverteidigung galt es für Nehammer auch, die "geistige Landesverteidigung" zu stärken. Es brauche auch die wirtschaftliche Landesverteidigung. Diese Rädchen müssten ineinandergreifen, um Unsicherheit und Ängste zu vermeiden und das Vertrauen in die Demokratie zu stärken. Die Tendenz der Echo-Kammern und Herabwürdigung würde die politischen Ränder stärken, sagte Nehammer: Man müsse Politik für die Vielen machen. So sei es etwa gut, wenn jemand jeden Tag mit dem Rad in die Arbeit fahre, es solle aber niemand leiden, wenn er auf das Auto angewiesen ist.

Die Fragen der Zukunft

Für den Kanzler stellen sich mit Blick auf das Jahr 2030 fünf entscheidende Fragen:

  • Kann das Versprechen, dass es der nächsten Generation besser geht, aufrechterhalten werden?
  • Wie und wo werden wir in Zukunft leben? Gibt es Stadt und Land oder nur noch Stadt?
  • Werden wir 2030 mehr work oder mehr life haben?
  • Ist Verzicht die richtige Antwort?
  • Wie sicher ist Österreich?
Erste Lösungsansätze hat sich Nehammer bereits überlegt, weitere sollen folgen
Erste Lösungsansätze hat sich Nehammer bereits überlegt, weitere sollen folgen © (c) APA/ROLAND SCHLAGER (ROLAND SCHLAGER)

Antworten auf diese Fragen will Nehammer in den nächsten Wochen in Gesprächen mit Expertinnen und Experten suchen und einen "Zukunftsplan 2030" ausarbeiten: "Österreich soll 2030 ein Land sein, das unabhängiger, sicherer und im wahrsten Sinne des Wortes voller Energie ist". Es solle "ein Land für uns alle sein, in dem Leistung etwas zählt, in dem wir unsere Werte hochhalten. Ein Land, das die Fähigkeiten seiner Menschen wertschätzt. Ein Land, in dem jeder etwas erreichen kann. Es wird immer ein Land bleiben, das bereit ist, den Frieden auf dieser Welt zu sichern".

In der Schule programmieren

Schon heute forderte Nehammer aber konkrete Maßnahmen für Österreichs Jugend:

  • Ein Schulfach "Programmieren" ab der 5. Schulstufe soll dafür sorgen, "dass wir als Menschen die Maschinen beherrschen, aber nicht die Maschinen uns".
  • Ab der 7. Schulstufe sollen Schülerinnen und Schülern e-paper von allen Zeitungen, die im Presserat vertreten sind, zur Verfügung gestellt werden.
  • Die Meisterprüfungen sollen "genauso kostenlos sein, wie ein Studienabschluss".
  • Flächendeckender Ausbau der Kinderbetreuung ab dem 1. Lebensjahr.

Stärkung des Gesundheitssystems

Bei den Älteren will der Kanzler bis 2030 die Altersarmut beenden, längeres Arbeiten und ein gesundes Altern ermöglichen. Dafür gelte es, das Gesundheitssystem absichern: "Es braucht einen Masterplan, damit bis 2030 in ganz Österreich genügend Kassenärzte zur Verfügung stehen". Man werde bis dahin 800 zusätzliche Kassenärzte benötigen, um die Versorgung am Land und in der Stadt sicherzustellen. Es brauche dafür mehr Studienplätze und man müsse dafür sorgen, dass die fertigen Ärztinnen und Ärzte dann auch in Österreich arbeiten, sagt Nehammer mit Verweis auf eine mögliche Berufspflicht für Absolventen im Inland.

Auch beim Pflegemangel müsse man "ins Tun kommen". Dafür sei die Reform der Rot-weiß-rot-Karte der richtige Schritt: Man gehe ins Ausland und suche nach Pflegefachkräften, doch dann würden Probleme auftreten: Neun verschiedene Anforderungen würden den Fachkräften im Wege stehen. Nehammer fordert daher einen "Nostrifikationsgipfel" für die Pflege.

Österreicher als "besitzende Klasse"

"Wo ist die Frage des Eigentums?", fragt sich Nehammer. Es gebe drei Möglichkeiten, an Eigentum zu kommen: Durch Erbe, "den Lottogewinn" und - "da wird es schon schwieriger" - einen Bankkredit. Das Eigentum bedeute aber Freiheit und eigene Verantwortung - und könne dazu führen, "dass man Altersarmut verhindern kann", so der ÖVP-Chef. Sein Ziel sei es, dass "alle Österreicherinnen und Österreicher zur besitzenden Klasse gehören können".

Nehammer erinnert an die 80er Jahre, in denen ein System öffentlicher Kredite auch mit geringen Eigenmitteln Eigentum geschaffen werden konnte. Ihm schwebt etwa eine Streichung der Grunderwerbssteuer für das erste Eigentum und eine Zweckwidmung der Wohnbauförderung vor, erklärte der Kanzler - und gestand den ÖVP-Landeschefs in der ersten Reihe gleich zu, dass derartige Eingriffe des Bundes in Landesagenden kritisch gesehen werden könnten.

Nitsch und Putenfleisch

"Landwirtschaft muss 2030 noch möglich sein", sagte Nehammer - und griff die EU an. So würde der Großteil des Putenfleisches aus EU-Nachbarländern importiert werden, weil dort weniger reguliert werde. Das schade der heimischen Versorgung - und durch die Transportwege auch dem Klima. Auch Kunst und Kultur müsse man in einem Land der Vielfalt fördern, sagt der Kanzler mit Blick auf Blasmusikkapellen, Brauchtumspflege und dem Hermann-Nitsch-Museum.

Arbeits- statt Sozialleistung

"Wir müssen auch gemeinsam wieder dazu kommen, dass Arbeit ein Wert ist", sagt Nehammer: Unzählige Studien würden zeigen, dass arbeitslose Menschen öfter krank und unglücklich seien. Mit Blick auf laufende Diskussionen sagt der Kanzler aber: "Es kann nicht sein, dass die einen nur noch work und die anderen nur noch life haben". Der Weg dorthin müsse "klar sein: Mit dem Grundprinzip, dass sich Leistung lohnen muss". Die Schere zwischen Arbeit und dem Bezug von Sozialleistungen müsse wieder aufgehen. Denn zurzeit sehe der gesellschaftliche Befund so aus: "Die einen arbeiten für das Geld - und die anderen bekommen es".

Um das zu ändern brauche es für Nehammer:

  • bessere Löhne.
  • "ein neues Arbeitslosengeld". Denn wer arbeitslos werde, würde zurzeit zuerst einen starken Einbruch erleben - und dann aber lange auf diesem Niveau bleiben. Stattdessen müsse der Einbruch zu Beginn schwächer sein - und das Arbeitslosengeld dann rasch und deutlich absinken, "damit die Motivation groß ist, auch tatsächlich wieder arbeiten zu gehen".
  • eine Reform der Sozialhilfe: Wer weniger als fünf Jahre in Österreich lebe, solle nur die Hälfte erhalten.
  • die Senkung der Abgabgenquote von 42 auf 40 Prozent.

Bis 2030 sei es außerdem "eine Zukunftsfrage für den österreichischen Wirtschaftsstandort, dass wir durch gezielte, geordnete Zuwanderung Wirtschaftswachstum möglich machen". Doch das Entscheidende sei, "dass wir darüber entscheiden, wer nach Österreich kommt - und nicht die organisierte Kriminalität". Für Asylwerbende solle es künftig mehr Sach- statt Geldleistungen geben.

Innovation und Verbrennungsmotor gegen Klimawandel

Verzicht sieht Nehammer nicht als Antwort auf die Klimakrise: "Manchmal habe ich das Gefühl, dass man sich entschuldigen muss, dass man auf der Welt ist". Dadurch wolle er die Sorgen der Jugend nicht kleinreden. Doch "die Untergangsapokalypse", die gezeichnet werde, löse nur Angst und Irrationalität aus: "Und die werden uns da nicht helfen". "Klima ist eines einmal fix nicht, nämlich national. Klima ist global". Man müsse die Intelligenz, Kreativität und Fähigkeiten nutzen, um den Ländern zu helfen, "die besonders betroffen sind" - und den eigenen Wirtschaftsstandort rüsten.

Das Auto will der Kanzler nicht verteufeln: "Österreich ist das Autoland schlechthin", sagte Nehammer mit Verweis auf 80.000 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in mehr als 900 Betrieben. Die Europäische Union habe "die höchste Expertise beim Verbrennungsmotor" - man solle sich auf "das konzentrieren, was da ist" und nicht auf einzelne Technologien fixieren. Er selbst werde sich auf europäischer Ebene "dagegen aussprechen, den Verbrennungsmotor zu verbannen". Innovation, Technologien und Fortschritt seien die Möglichkeiten, dem Klimawandel entgegenzutreten.

Kritik kam postwendend von der Opposition und von Klima-NGOs. Für SP-Bundesgeschäftsführer Christian Deutsch handelte es sich bei der Rede um eine "inhaltslose Selbstinszenierung", NEOS-Generalsekretär schlug in eine ähnliche Kerbe: "Diese Rede hat aufgezeigt, was die ÖVP kann: Inhaltsleere und Ambitionslosigkeit schön inszenieren." Für Greenpeace offenbarte sich im Referat Nehammers die "katastrophale Klima-Ignoranz der ÖVP", Global2000 kritiserte, dass keine einzige Maßnahme angekündigt worden sei, die den Klimaschutzvoranbrächte.

Parteichef statt Kanzler

Der Kanzler sprach als ÖVP-Chef: Einladung, Organisation und Website-Betreuung erfolgten durch die Volkspartei. Im 35. Stock der Twin-Tower in Wien nahm vor allem die türkise Parteispitze von Regierungsmitgliedern über ÖVP-Landeshauptleuten bis Generalsekretär Christian Stocker Platz. Bevor Nehammer selbst das Wort ergriff, wurde ein kurzes Video eingespielt, das der Kanzler zuvor bereits auf Twitter geteilt hatte:

Die Opposition zeigte sich von Nehammers Rede wenig beeindruckt. Der Kanzler habe "altbekannte ÖVP-Klientelpolitik" präsentiert, resümierte SPÖ-Vizeklubchef Jörg Leichtfried. Außerdem sah sich die SPÖ in dem Teil der Rede, in der Nehammer darüber sinniert, was für "Ein Land" Österreich sein solle an eine ähnliche Rede erinnert, die Parteichefin Pamela Rendi-Wagner vor einem Jahr gehalten hatte. Und die rote Frauensprecherin Eva-Maria Holzleitner vermisste die Rolle von Frauen im Zukunftsbild der ÖVP.

FPÖ-Chef Herbert Kickl ortete indes eine "Inzuchtveranstaltung der ÖVP-Familie". Tatsächlich sei "Unmögliches möglich" geworden, sagt Kickl, der sich schon länger den Rücktritt der Regierung wünscht: "Denn es hat wirklich niemand für möglich gehalten, dass eine Bundesregierung die Bevölkerung mit Lockdowns einsperrt, ihre Grund- und Freiheitsrechte mit Füßen tritt und sie mit einer Impfpflicht in die Nadel zwingen will".