Am 24. Februar des Vorjahres erfolgte der Anruf aus der ORF-Zentrale in Wien gegen vier Uhr in der Früh: "Christian, der russische Angriff auf die Ukraine hat begonnen!", sagte der Kollege beim sogenannten "Monitoring", das rund um die Uhr besetzt ist. Bereits einige Wochen zuvor hatte ich noch einmal meine ukrainische und meine österreichische Handynummer hinterlegt, weil ich im Grunde bereits seit Ende Dezember 2021 mit diesem Großangriff gerechnet habe.
Die Hintergrundinformation stammte vom serbischen Präsidenten Alexander Vučić, den ich knapp vor Weihnachten in Belgrad interviewt hatte. Im Anschluss sprach ich ihn auf die Ukraine an, die im Laufe des Jahres 2022 mehrere Militärmanöver mit Nato-Staaten plante. "Wie wird Russland darauf reagieren", fragte ich Vučić, der einige Wochen zuvor Wladimir Putin getroffen hatte: "Ich fürchte, die Ukraine wird nicht die Zeit haben, auch nur ein einziges Manöver durchzuführen", lautete Vučićs eindeutige Antwort.
Zu Weihnachten informierte ich meine Familie über die größte Gefahr für Europa seit der Kuba-Krise des Jahres 1961, das Jahr, in dem auch ich geboren wurde. Meine Prognose lautete, dass es zum Krieg – wenn überhaupt – erst nach den Olympischen Spielen in Peking kommen werde, weil Russland China sicher nicht die "Schau stehlen" werde. Diese Bewertung spaltete meine Familie. Meine ältere Tochter wollte ihren Geburtstag Mitte Februar auf jeden Fall noch in Kiew feiern, während meine jüngere Tochter und ihr Gatte mit Blick auch auf meine Enkelin einen Flug nach Kiew ablehnten. So feierten meine ältere Tochter, meine Gattin und meine Schwägerin noch Geburtstag in Kiew.
Die drei Damen flogen am 13. Februar zurück, während am 14. Februar mit der letzten Maschine aus Belgrad mein Kameramann Nenad nach Kiew kam. Mein lokaler ukrainischer Kameramann war nicht bereit, im Krieg zu arbeiten, und meine anderen Kameraleute brauchte ich in ihren jeweiligen Städten. Somit griff ich auf Nenad zurück, mit dem ich kurze Zeit bereits 2014 in Donezk gedreht hatte – ein Glücksgriff, denn er hat die Ruhe weg und versteht sich mit Igor, meinem langjährigen Produzenten und Fahrer sehr gut. Kettenrauchen verbindet, ein Laster, das ich als Großvater doch überwinden konnte.
Als der Angriff dann am 24. Februar begann, berichtete ich in den frühen Morgenstunden noch einige Male live aus Mariupol, wir drehten noch einige Bilder aus der Hafenstadt, deren Bewohner damals noch nicht wussten, was ihnen bevorstand. Doch mir war klar, dass die Zeit drängte. Mariupol würde eingekesselt werden, war aber kein kriegsentscheidender Ort, während ein Fall Kiews einer Vorentscheidung gleichkäme. Daher mussten wir so schnell wie möglich raus aus der Hafenstadt und zurück nach Kiew, denn unmittelbar nach Kriegsausbruch war unklar, ob und – wenn ja – wie rasch die Hauptstadt in russische Hände fallen würde.
Gegen ein Uhr früh trafen wir im Zentrum auf die letzte Straßensperre der Armee, die uns noch vom ORF-Büro im Regierungsviertel trennte. Die Soldaten überprüften unsere Dokumente mit Staunen und Unglauben, war der Tag doch durch eine Massenflucht aus Kiew geprägt gewesen, während wir in den Brennpunkt des Geschehens zurückkehrten.
Nach einigen Stunden Schlaf machten sich zwei strategische Entscheidungen bezahlt, die ich vor Kriegsbeginn getroffen hatte.
Das war einerseits der Standort des Büros; wir lagen zwar als unmittelbarer Nachbar des ukrainischen Präsidenten in der "roten Zone", die als besonders gefährdet galt, andererseits hatten wir so lange Strom, Heizung und Internet, solange auch Selenskyj darüber verfügt. Zweitens hatten wir Teile der Ausrüstung für das Leben sowie der technischen Ausstattung in die Botschaft ausgelagert, um noch arbeiten zu können, sollte unser Büro im neunten Stock ausgebombt werden. Die Hilfsbereitschaft der Botschaft war unsere Rückversicherung, wobei wir nur Teile der Ausrüstung in unser Büro zurückholten, wo wir nach wie vor und bis dato eine ausgezeichnete Internetverbindung haben. Hinzu kommen zwei Satellitentelefone, mehrere Mobiltelefone, ein Stromgenerator sowie eine Star-Link-Einheit, damit wir noch senden können, wenn sonst nichts mehr geht.
Ein Jahr Krieg ist nun vergangen; wir drei waren mehrmals in Frontnähe, dreimal in der Stadt Bachmut, einmal wurde unser Hotel in der Stadt Nikopol von russischer Artillerie beschossen. Mehr als 110.000 Kilometer haben wir in der Ukraine zurückgelegt, mehr als 40 Stunden Programm für den ORF produziert; viele Artikel habe ich geschrieben, und mein Buch "Mein Journalistenleben – zwischen Darth Vader und Jungfrau Maria" wurde zum Bestseller. Enorm war der Zuspruch von Hörern, Sehern und Lesern, denen ich nur von Herzen danken kann.
Doch Leistung und Erfolg, die ohne mein Team und viele Kolleginnen und Kollegen im ORF nicht möglich wären, haben auch – abgesehen von der Tragödie des Krieges – private Schattenseiten. Ein Jahr hat bekanntlich 365 Tag. Im Vorjahr war ich 238 Tage in der Ukraine und 23 Tage am Balkan.
Zur Trennung von der Familie kommen ihre Ängste um mich und mein Team. Wegen der beginnenden russischen Offensive musste ich auch heuer im Februar früher in die Ukraine zurück als geplant; beim ersten Zeugnis, das meine Enkelin erhielt, konnte ich ebenso wenig dabei sein wie beim Geburtstag meiner älteren Tochter, den wir 2022 noch in Kiew feierten. Zum Abschied waren wir damals im Restaurant Gortschitsa (Senf), das einem Elsässer gehört, der ein sehr netter Wirt ist. Aus Nostalgie, aus Freundschaft und wegen der guten Küche bin ich hin und wieder dort, wenn wir in Kiew sind und unsere Dreier-WG nicht kochen will. Im Restaurant hängt ein Bild mit einer Inschrift in französischer Sprache: "Liebe ist ein Traum."
Wer hätte vor einem Jahr gedacht, wo wir heute, ein Jahr später stehen! Der Mensch hat – den griechischen Göttern und ihrer Mythologie sei Dank – nicht mehr die Gabe, in die Zukunft zu sehen. Daher bleibt nur die Hoffnung: Möge der Wunsch nach Frieden für die Ukraine und Europa kein Traum bleiben!
Christian Wehrschütz (Kiew)