Eine Relativierung: Natürlich haben die Menschen in der Ukraine Angst vor Wladimir Putin. Es ist ihr purer Überlebenstrieb. Auch im Westen fürchtet man Russlands Präsident, selbstredend machen das auch Menschen in seinem eigenen Land. Doch fast elf Monate nach Beginn des Angriffskrieges gegen die Ukraine, muss man auch den Mythos Putin und seiner Armee relativieren: Es fehlt beiden an der Kraft, die Welt endgültig ins Chaos zu stürzen.
„Man hat bei Kriegsbeginn die russische Armee überschätzt“, sagt Gerhard Mangott, Professor an der Universität Innsbruck und Experte für das gegenwärtige Russland. Nach einer Modernisierung der traditionellen Streitkräfte um 670 Milliarden Euro hat man ein Überrollen der Ukraine befürchtet, nun aber ist man in einen zermürbenden Stellungskrieg gefallen. „So, wie Russland aktuell verfasst ist, wird es auch keine horizontale Ausweitung des Krieges auf andere Länder des Westens, gar Nato-Mitglieder geben“, analysiert Mangott. Ein Umstand, der freilich umgekehrt auch nicht bedeutet, dass der Krieg in der Ukraine ein rasches Ende nehmen kann. Denn das Kriegsziel in der Ukraine ist weiterhin ein „Erfolg“ – auch wenn sich dessen Definition in den letzten Monaten gewandelt hat. Mittlerweile gehen Beobachter schon davon aus, dass ein Halten der Halbinsel Krim im Schwarzen Meer innerhalb Russlands als Erfolg gewertet werden könnte.
Doch droht im Angesicht von so weit verfehlten Zielen in der Kriegsführung nicht eine Revolte von der russischen Basis? 21 Millionen Menschen in Russland leben in bitterer Armut, laut neuesten Ansagen aus dem Kreml bekomme das Heer aber „alles, was es will“. Mangott sieht zwar auch, dass „der Staatshaushalt in Schieflage ist, Ausgaben für Gesundheit, Bildung und den Wohnungsbau dringlicher“ wären, doch die resignative Apathie weiter Teile der Bevölkerung lasse nicht auf einen Aufstand hoffen. Auch Paul Krisai, ORF-Korrespondent in Moskau und Kolumnist der Kleinen Zeitung, sieht nicht die Zeichen für einen Volksaufstand. „Die Menschen leben entkoppelt von der Politik, erst die Generalmobilmachung war so etwas wie ein Aufkündigen des Gesellschaftsvertrags“, analysiert Krisai. Da wurde Müttern bewusst, was geschieht, wenn sie ihre Söhne an die Front schicken müssen. „Aber das Wasser brodelt noch nicht.“
Wahrscheinlicher als eine Revolte von der Basis ist eine Palastrevolution aus dem inneren Machtzirkel heraus. Mit dem Geheimdienstmann Nikolai Patruschew, ein Klassenkamerad Putins, gibt es einen potenziellen Nachfolger – zugleich ein absoluter Hardliner.
„Diese Palastrevolte würde er nur geben, wenn Russland auf voller Linie scheitert, etwa mit dem Verlust der Krim“, meint Mangott. In der Ukraine herrscht indes Einigkeit, wie seit Jahrzehnten nicht. Ob die für Ende Oktober angesetzten Wahlen für das Einkammer-Parlament stattfinden werden, ist indes offen, die Amtszeit von Präsident Wolodymyr Selenskyj dauert bis 2024.
Und der Westen? „Der ist im Wirtschaftskrieg weit erfolgreicher als Russland“, bilanziert Mangott. Von westlichen Waffenlieferungen hänge es ab, wie dieser Krieg endet – und natürlich von den ukrainischen Streitkräften. Deren Furchtlosigkeit ist evident, der Westen wirkt da schon zaghafter.