Angesichts des Vormarschs der ukrainischen Streitkräfte haben die pro-russischen Behörden am Samstag alle Zivilisten aufgefordert, die südukrainische Stadt Cherson "sofort" zu verlassen. Wegen der angespannten Lage an der Front, der erhöhten Gefahr von Bombardierungen der Stadt und der "Bedrohung durch terroristische Anschläge" müssten alle Zivilisten die Stadt umgehend verlassen und zur linken Seite des Fluss Dnipro übersetzen, erklärten die Behörden in Online-Netzwerken.
Die Evakuierungen über den an Cherson grenzenden Fluss sind seit Mittwoch in Gange. Unterdessen griff Russland nach ukrainischen Angaben am Samstag erneut Infrastruktur der Energieversorgung im Westen der Ukraine an. Bei den Raketenangriffen seien mehrere Energieanlagen getroffen worden, meldete der Versorger Ukrenergo. Das Ausmaß der Schäden sei "mit den Folgen der Angriffe vom 10. bis 12. Oktober vergleichbar oder könnte diese sogar noch übertreffen", erklärte Ukrenergo in den Online-Netzwerken. Beamte in mehreren Regionen berichteten von Stromausfällen.
Sorge um Staudamm-Katastrophe
Im Ukraine-Krieg wächst die Sorge vor der Zerstörung eines Staudammes mit möglicherweise katastrophalen Folgen für den Süden des Landes. Der von Moskau eingesetzte Verwalter der umkämpften Region Cherson wies am Freitag ukrainische Vorwürfe zurück, russische Einheiten hätten den Kachowka-Staudamm und das Wasserkraftwerk am Fluss Dnipro vermint. Ukraines Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte am Donnerstag erklärt, Russland bereite damit "den nächsten Terror-Angriff" vor.
Er verglich eine mögliche Sprengung mit dem Einsatz von Massenvernichtungswaffen. Bereits am Dienstag hatte wiederum der Oberbefehlshaber der russischen Streitkräfte in der Ukraine, Sergej Surowikin, erklärt, die Ukraine bereite einen Angriff auf den Damm vor. Auch er warnte vor einem Desaster.
Der 30 Meter hohe und mehr als drei Kilometer breite Kachowka-Damm wurde 1956 gebaut und ist unter russischer Kontrolle. Das Reservoir versorgt die von Russland 2014 annektierte Halbinsel Krim mit Wasser, wie auch das besetzte AKW Saporischschja. Eine Sprengung des Staudamms dürfte große Teile der Region Cherson unter Wasser setzen.
Selenskyj sprach von 80 Ortschaften - darunter die Stadt Cherson selbst - die nach einer Zerstörung des Dammes überflutet werden würden. Er verwies in seiner Ansprache auch auf die Bedeutung der Anlage für die Versorgung der Krim: Eine Sprengung wäre ein Eingeständnis Russlands, dass es die Halbinsel nicht halten könne, sagte er.
"Vorwürfe sind falsch"
Der von Russland eingesetzte Vize-Verwalter von Cherson, Kirill Stremusow, sagte der staatlich kontrollierten russischen Nachrichtenagentur RIA Nowosti am Freitag, Selenskyjs Vorwürfe seien falsch. Die jeweiligen Angaben konnten von unabhängiger Seite nicht überprüft werden.
Die Kontrolle über Cherson bietet Russland eine Landverbindung zur Krim. Eigenen Angaben zufolge treiben die ukrainischen Streitkräfte seit Wochen ihre Offensive gegen russische Truppen in der Region voran. Es habe heftige Kämpfe im Bezirk Beryslaw gegeben.
Von Russland annektiert
Cherson gehört neben Luhansk, Donezk und Saporischschja zu den vier Regionen, die Russland Ende September annektiert hat. Die Annexion wird international nicht anerkannt. Russland hat angesichts des ukrainischen Vorstoßes die Bewohner der Stadt aufgerufen, sich in Sicherheit zu bringen. Bis zu 60.000 Menschen sollten in den kommenden Tagen nach Russland gebracht werden.
Die Ukraine zog am Freitag Bilanz über die anhaltenden russischen Angriffe auf die Energieversorgung des Landes. Energieminister Herman Haluschtschenko zufolge wurden in den vergangenen Tagen bis zu 40 Prozent des Stromnetzes getroffen. Dadurch sei die Stromgewinnung eingeschränkt worden, sagte er der Nachrichtenagentur Reuters.
"Mindestens die Hälfte der Wärmekraft-Produktionskapazität, sogar mehr" seien ausgefallen. Möglicherweise werde die Ukraine Strom zukaufen müssen, um durch die Krise zu kommen. Einige Händler hätten bereits Gespräche mit Lieferanten aufgenommen, sagt der Energieminister. Selenskyj hatte am Donnerstag erstmals seit dem russischen Einmarsch Ende Februar landesweite Beschränkungen für die Stromnutzung verhängt.