Der Suizid der Ärztin erschüttert viele. Kann man da zur Tagesordnung übergehen?
WILFRIED HASLAUER: Nein. Man kann schon lange nicht mehr zur Tagesordnung übergehen. Es hat sich ein Auseinanderdriften der Gesellschaft mit einer gleichzeitigen Radikalisierung der Sprache entwickelt. Jeder kann sich bei Social Media seine eigene Echokammer suchen. Beim Besuch des Bundespräsidenten in Salzburg hat man einen Galgen für Politiker mitgeführt. Da ist eine rote Linie überschritten.
Was ist die Ursache?
Die Radikalisierung der Sprache hat ihre Ursache in der Tonalität der Politik. Es gibt kein Halten, keine Grenze mehr. Wenn man sich anschaut, wie sich eine MFG ausdrückt, muss man sich mit Grauen abwenden. Viele Leute sagen mir, sie schauen sich die Übertragung des Nationalrats nicht mehr an, weil es sie schlichtweg anwidert. Wir gehen den Weg in eine Zweidrittel-Gesellschaft. Zwei Drittel tragen das System mit, ein Drittel zieht sich zurück.
Die Teuerung fliegt uns um die Ohren. Waren die Sanktionen ein Fehler?
Der Bundespräsident hat klar Position bezogen. Natürlich treffen uns die Sanktionen. Die Frage ist: Kann man sich das alles bieten lassen? Niemand hat einen konventionellen Angriffskrieg in Europa für möglich gehalten. Würde man in unserem wirtschaftlichen Interesse die Ukraine aufgeben und sagen, der Westen hat Einflusssphären und auch der Osten, stellt sich die Frage: Wer ist Putins nächstes Opfer? Die Balten?
Manche meinen, man sollte Druck auf Kiew ausüben, damit sich Teuerung und Gasknappheit entspannen. Was halten Sie davon?
Nichts. Ich bin sehr stark dafür, dass das Sterben beendet wird, es muss immer auch eine Freiheit in Würde sein. Ich könnte mir vorstellen, dass man einen Waffenstillstand anstrebt.
Worauf müssen wir uns im Winter einstellen?
Der Winter wird nicht so problemlos sein wird bisher. Ich bin kein Freund von Weltuntergangsszenarien. Wir haben in den letzten 50 Jahren unglaubliche Krisen bewältigt. Mein Spruch ist, der Weltuntergang hat seine Propheten noch immer enttäuscht. Es wird nicht leicht, aber es ist bewältigbar.
Aber die Preisexplosion ist eine gewaltige?
Mir bereitet weniger der Winter, sondern das nächste Jahr Kopfzerbrechen. Die Energiekonzerne geben die Preise immer ein Jahr später weiter. 2021 wurde die Kilowattstunde um 8,5 Cent eingekauft, jetzt ist der Preis an der Börse bei 40 Cent.
Was kann die Politik tun?
Es ist gut, dass die Regierung für eine soziale Abfederung sorgt, man muss das Problem an der Wurzel anpacken. Bei Gas ist es schwierig, beim Strom kann man sehr wohl etwas machen. Es ergibt volkswirtschaftlich keinen Sinn, wenn ein Konzern wie der Verbund fünf Milliarden Gewinn macht, die Leute zahlen das, und unsere Unternehmen brechen zusammen.
Was wäre Ihr Ansatz?
Derzeit müssen Energieunternehmen die vergleichsweise billig hergestellte erneuerbare Energie zu normalen Preisen verkaufen. Man sollte diskutieren, ob die Differenz nicht einer Abgabe unterzogen wird, um den Strompreis zu stützen. Es geht um Haushalte und Unternehmen. Man sollte die Gewinne nicht mit Dividendenzahlungen, sondern anderweitig abschöpfen.
Und beim Sprit?
Es gab im März einer Untersuchung der EU, aus der hervorgeht, dass die Ölkonzerne sehr gut verdient haben. Man sollte über eine Preisregulierung nachdenken, wo man sich anschaut: Um welchen Preis kaufen die Ölkonzerne ein? Was kosten die Raffinerien? Wenn da noch satte Gewinnen dazukommen, sollte man überlegen, ob man dem nicht zeitlich einen Riegel vorschiebt. Die Grünen mögen das nicht (Anm. der Red.: ein niedriger Spritpreis), aber die Leute fahren heute nicht weniger Auto als früher.
Der Bundespräsident hat die Regierung zum Arbeiten aufgefordert. Arbeitet sie zu wenig?
Das ist dem Wahlkampf des Bundespräsidenten geschuldet. Wir arbeiten ziemlich viel.
Er meinte wohl den Bund?
Auch die Bundesregierung arbeitet, es ist nicht notwendig, dass er sie zur Arbeit auffordert. Es wäre gut, wenn die innerkoalitionäre Meinungsbildung rascher abliefe und die Koalition ein stärkeres Zeichen der Entschlossenheit abliefert. Der Bund hat ein 28-Milliarden-Paket beschlossen. Kommunikativ kann man noch viel verbessern.
Die ÖVP liegt in Umfragen bei 22 Prozent. Warum ist das so?
Zum einen ist es ein Trommelfeuer an Korruptionsvorwürfen, der durch den Untersuchungsausschuss befeuert wird. Rausgekommen ist noch nichts. Ich wehre mich mit aller Entschiedenheit dagegen, dass 600.000 ÖVP-Mitglieder korrupt sein sollen. Ich bin auch nicht korrupt, ich lasse mir das auch nicht umhängen. Die Pandemie mit den vielen Unwägbarkeiten war eine schwierige Situation. Jetzt weiß niemand, wohin die Reise geht. Keiner kann ihnen sagen, wie der Krieg ausgeht, ob die Russen das Gas abdrehen. Das trifft die Regierenden, die Grünen stehen auch nicht sonderlich gut da.
Also Augen zu und durch?
Nein. In Ruhe weiterarbeiten, sich nicht nervös machen lassen, das Notwendige machen. Man hat Sebastian Kurz immer vorgeworfen, dass er über-PR-mäßig agiert und zu schnell Dinge angekündigt hat. Das ist nicht gut, aber zu wenig darüber zu reden, ist auch nicht gut.
Salzburg wählt im Frühling. 2018 hatten Sie Rückenwind dank Kurz, jetzt Gegenwind.
Das ist der Normalzustand. Ich konzentriere mich auf Salzburg.
Normalzustand? Ist die ÖVP wieder dort, wo sie unter Spindelegger, Pröll, Molterer war?
Das ändert nichts an meiner Loyalität zum Bundeskanzler und der Bundespartei. Es ist halt eine schwierige Situation. Wer es besser machen kann, soll aufzeigen.
In Tirol und Niederösterreich, wo auch gewählt wird, ist man deutlich nervöser.
Das widerspricht meinem Naturell.
Letzte Frage: Werden Sie Van der Bellen wählen?
Ich, Ja!
Wahlempfehlung sollte die ÖVP abgeben, oder?
Nein, ich bin der Meinung, dass jeder Wähler und jede Wählerin mündig genug ist, selbst zu wissen, wen man wählt.