UNO-Flüchtlingshochkommissar Filippo Grandi hat sich lobend über das Ausmaß der Flüchtlingsaufnahme durch Österreich geäußert. Seit der Flüchtlingskrise im Jahr 2015 seien rund 130.000 Personen aufgenommen worden. "Das ist keine geringe Zahl. Ich schätze das", sagte Grandi im APA-Interview. "Das bedeutet auch, dass einige Spitzenpolitiker vielleicht viel Negatives sagen, aber die tatsächliche Praxis besser ist. Ich denke, Österreich sollte stolz darauf sein", sagte Grandi.
Der Chef des UNO-Flüchtlingshochkommissariats (UNHCR) würdigte auch die unter Türkis-Grün deutlich erhöhten Zahlungen für die globale Flüchtlingshilfe. "Das ist etwas, worum wir lange Zeit gebeten haben", sagte Grandi. Österreich habe seine Zahlungen nach der Afghanistan-Krise im Vorjahr erhöht "und zählt heute zu unseren größten Unterstützern". "Es gibt Zeichen, dass das auch so weitergehen wird, und das ist positiv".
Kleine positive Schritte
"Ich habe einen schwierigen Job. Ich muss kleine positive Schritte nehmen und darauf aufbauen", charakterisierte der italienische UNO-Diplomat seine Arbeit. Aktuell geht es ihm auch darum, dass andere Krisen ob des Ukraine-Kriegs nicht vergessen werden. "Ich komme gerade von einer Reise nach Afrika zurück, war in Afghanistan, und reise nächste Woche nach Bangladesch", sagte Grandi in dem am Rande eines Treffens der Chefs der UNO-Teilorganisationen in Wien geführten Gespräch. Wenn Europa andere Teile der Welt "zum Teil der Lösung" im Ukraine-Krieg machen wolle, "muss es auch einige der legitimen Sorgen dieser Länder verstehen und angehen", sagte Grandi mit Blick auf die Auswirkungen von steigenden Energie- und Lebensmittelpreisen, die für "Frustration" weltweit sorgen.
"Wir können so viele positive Lehren aus dieser Krise ziehen", verwies Grandi konkret auf die EU-Reaktion auf die Flüchtlingsbewegung aus der Ukraine. So sei erstmals die vor 21 Jahren beschlossene EU-Richtlinie für temporären Schutz aktiviert worden, die den Vertriebenen umfassende Rechte gibt. Dabei habe sich gezeigt, dass dieser liberale Zugang "die Belastung der Staaten verringert hat". Die völlige Bewegungsfreiheit ermögliche es den Menschen nämlich, "dorthin zu gehen, wo sie Verwandte haben, die sie aufnehmen können".
Liberaler Zugang "entlastet"
Somit sei die verbreitete Furcht der Regierungen zerstreut worden, dass eine liberale Flüchtlingspolitik sie belasten könnte, sagte Grandi. Entsprechend äußerte er auch die Hoffnung, dass nun die festgefahrene Diskussion über die künftige EU-Flüchtlingspolitik wieder in Schwung kommen könnte. Man begrüße den Vorschlag der EU-Kommission für eine bessere Verteilung von Flüchtlingen in Europa, damit "nicht ein kleines Land wie Österreich so viele hat und ein größeres Land weniger, weil es weiter weg liegt".
Beeindruckt zeigte sich der UNHCR-Chef von der "enormen Solidarität" Europas mit den ukrainischen Vertriebenen, zumal diese Krise im globalen und historischen Vergleich einzigartig sei. Es gehe um 14 Millionen Menschen (davon acht Millionen Binnenvertriebene), was 15 Prozent aller Vertriebenen weltweit entspreche. Einzigartig sei aber auch die Art und Weise, wie sich diese Krise entwickelt habe. "Die ganze Welt konnte diesen Krieg und seine Folgen praktisch live verfolgen. Ich kann mich an keinen Fall erinnern, wo das so offenkundig gewesen wäre: Die russische Invasion, das Bombardement der Städte und die flüchtenden Menschen."
Gleiches Anrecht auf Schutz
In Europa habe man "die Angst, dass man alles stehen und liegen lässt und ins Auto springt" bisher nicht gekannt. Doch es sei dieselbe Angst, die auch Flüchtende in Afrika, Asien oder dem Nahen Osten empfinden. "Ich hoffe, dass die Menschen verstehen, dass wir diese Angst respektieren und überall angehen müssen. Die Ukrainer sind vielleicht leichter zu integrieren, aber sie haben kein größeres Anrecht auf Schutz als Syrer, Afghanen oder Menschen aus anderen Kriegsgebieten", betonte Grandi.
"Leider werden hier Unterschiede gemacht, und damit bin ich nicht einverstanden", kritisierte Grandi die Tatsache, dass parallel zur Aufnahme der Vertriebenen aus der Ukraine die Pushbacks im Mittelmeer weitergingen oder Großbritannien ein "sehr schlimmes Abkommen zum Export von Asylwerbern nach Afrika geschlossen" habe.
Sechs Millionen in zwei Monaten
Grandi sieht durch die Aufnahme der Ukrainer auch die langjährige Argumentation von Politikern "in vielen Ländern einschließlich dieses" entlarvt, wonach Europa "voll" sei und keine Flüchtlinge aufnehmen könne. "Europa hat sechs Millionen Menschen in zwei Monaten aufgenommen, also schafft es das, wenn es einen Willen dazu gibt, und wenn die Länder zusammenarbeiten und gute Systeme schaffen wie etwa den temporären Schutz."
Der UNO-Diplomat trat auch der von Österreich bemühten Argumentation entgegen, dass Flüchtlinge von Nachbarländern aufgenommen werden sollen. Im Falle Afghanistans, Syriens oder Somalias seien die jeweiligen Nachbarländer nämlich bereits "voll oder äußerst belastet", und das bei deutlich weniger Mitteln als sie die europäischen Staaten haben. Diese hätten somit die "Verpflichtung", zu helfen und "einen kleinen Teil" der Afghanen oder Syrer aufzunehmen.
Abgrenzungsprobleme
Grandi räumte ein, dass es in bestimmten Fällen Abgrenzungsprobleme gibt, etwa wenn Menschen aus einer "Mischung" aus Gründen wie ethnische Verfolgung und wirtschaftliche Not ihr Land verlassen. Änderungsbedarf bei der Genfer Flüchtlingskonvention sieht er aber nicht. Sie sei nämlich "sehr breit" und könne an neue Phänomene wie sexuelle Verfolgung oder Klimawandel angepasst werden. Grundsätzlich umfasse sie alle Menschen, "die den Schutz ihres Landes verlieren", indem sie von diesem verfolgt werden oder indem es sie - wie im Fall der Ukraine - nicht mehr schützen könne.
Was die Ukraine betrifft, geht Grandi davon aus, dass "eine große Zahl derjenigen, die geflüchtet sind, zurückkehren wird wollen, weil es sich um getrennte Familien handelt". Doch werde es dazu wohl erst nach einem "Verschwinden" oder zumindest einer geografischen Eingrenzung des Krieges kommen. Denn wer einmal die große Entscheidung zur Flucht getroffen habe, kehre nicht überstürzt und ohne entsprechende Sicherheitsaussichten zurück, so Grandi.
Stefan Vospernik/APA