Russlands Außenminister Sergej Lawrow hat in einem Interview mit einer russischen Zeitung vor einem Dritten Weltkrieg gewarnt, die Gefahr eines Atomkriegs sei hoch. Wie schätzen Sie diese Aussagen ein?

GERALD KARNER: Das ist in erster Linie eine Drohgebärde Richtung Westen – um diesen einzuschüchtern, damit die Waffenlieferungen Richtung Ukraine so gering wie möglich ausfallen. Zudem hofft man in Moskau, dass durch diese Drohungen die Stimmen im Westen lauter werden, die von der Ukraine fordern, sie solle kapitulieren. Dass die Aussagen in einem Interview mit russischen Journalisten fiel, zeigt aber, dass es sich hier wohl auch um eine starke Aussage für die eigene Galerie handelt.



Für wie hoch halten Sie die Gefahr eines Atomkriegs?

Russland hat mittlerweile sehen müssen, dass es mit konventionellen Mitteln alleine die Ziele, die es ursprünglich angepeilt hat, nicht erreichen kann. Das macht per se den Einsatz von Massenvernichtungswaffen ein wenig wahrscheinlicher. Ich halte es dennoch weiterhin für sehr unwahrscheinlich, weil es eine enorme Ausweitung wäre – ein zumindest kontinentumspannender Krieg mit nuklearem Austausch. Dieser hätte Konsequenzen, die wir uns gar nicht vorstellen können. Ich gehe davon aus, dass einigermaßen rational denkende Menschen das nicht wollen – und die gibt es auch in der russischen Führung. Das ursprünglich formulierte Kriegsziel Russlands – ein Rücktritt der Regierung in Kiew, im Rahmen einer regional begrenzten Militäraktion – hat mit dem Einsatz von Atomwaffen überhaupt nichts zu tun, und kann durch Atomwaffen auch nicht erreicht werden. Auch Lawrow hat immer gesagt, dass Nuklearwaffen nur dann eingesetzt würden, wenn Russland in seiner Existenz bedroht wäre. Und davon kann überhaupt keine Rede sein.

Soll die Ukraine kapitulieren?

Man sollte nicht davon ausgehen, dass, wenn die Ukraine ihren Kampf aufgäbe, Russland seine aggressive Haltung gegenüber dem Westen ändern würde. Im Gegenteil: Russland würde sich wohl bestärkt fühlen. Dazu kommt die Frage, was die Bedingungen wären – denn eine eigentlich intakte Regierung, mit einer eigentlich intakten Armee, könnte gegenüber der ukrainischen Bevölkerung wohl kaum rechtfertigen, dass sie jetzt einfach aufhört zu kämpfen und große Teile ihres Territoriums, mit seinen Bewohnern, dort einfach einem aggressiven Nachbarn überlässt.

Die USA – und jetzt auch Deutschland – versorgen die Ukraine mit Waffen. Wie groß ist die Gefahr, dass der Westen doch in diesen Krieg gezogen wird?

Mit den Mengen, die derzeit geliefert werden, kann von einer ukrainischen Offensive keine Rede sein. Möglich werden könnten damit örtliche Gegenangriffe, etwa wenn man eingekesselt wurde. Die russische Behauptung, man befinde sich in einem Krieg mit der Nato, halte ich für Propaganda. Völkerrechtlich ist ganz klar, dass Waffenlieferungen kein Kriegseintritt sind. Das weiß Lawrow auch ganz genau. Die Nato schickt keine Truppen in die Ukraine. Auch die Behauptung, die Nato führe in der Ukraine einen Stellvertreter-Krieg, ist grotesk. Diesen Krieg hat bekanntlich Russland begonnen.

Wird zu wenig an einer diplomatischen Lösung gearbeitet?

Das glaube ich nicht. Es wird ja versucht, zu verhandeln. Guterres und andere waren in Moskau, in Ramstein wurde auch über diplomatische Maßnahmen beraten. Nur: Wenn Russland, wie bisher, auf dem Standpunkt bleibt, dass es sich einfach Teile seines Nachbarlandes einverleiben kann, und auf seinen ultimativen Forderungen beharrt, wird es nicht viel zu verhandeln geben.